Veronika Schmidt
Wer erfolgreich aus dem Pornokonsum aussteigen will, muss erst verstehen, weshalb so viele Veränderungswillige an ihrem Vorhaben scheitern. Hauptsächlich deshalb, weil der Ausstieg aus dem Konsum der Bilder nicht entkoppelt wird von der Selbstbefriedigung! Ein Systemfehler!
Die folgenden Tipps sind nicht nur in der Sexualtherapie praxiserprobt, sondern auch nachhaltig. Und immer wieder aufs Neue anwendbar.
Kaum lag der Corona-Lockdown in der Luft, reagierte die Porno-Branche flink. Es gab Gratisangebote und extra Themen-Serien zu Corona- und Quarantäne. Die günstige Gelegenheit wurde rege genutzt. Zunehmend auch von Frauen. Nach einem ersten steilen Anstieg haben sie die Zahlen des Porno-Traffic im Internet während des Lockdowns in der Schweiz bei fünfzehn Prozent über dem Durchschnitt eingependelt. Doch für viele Menschen ist der langfristige Konsum von Pornografie mehr Last als Lust. Weshalb ist das so und wie gelingt der Ausstieg?
Weshalb werden überhaupt Pornos geschaut? Auch wenn Lustgewinn und Neugier (mindestens zu Beginn) als Motivation nahe liegen, so ist Pornokonsum hauptsächlich eine Bewältigungsstrategie und Trostpflaster für vielerlei. Für Frust, Langeweile, Stress, Wut, Unzufriedenheit, Unsicherheit, Unverstandensein, Berührungsmangel, Einsamkeit aber auch aus Konfliktscheu und Bequemlichkeit (Paarsex ist anstrengender). Durch den Konsum der erregenden Bilder und durch den meist herbeigeführten Orgasmus entspannen sich Menschen und überstehen so Drucksituationen besser. Einsamkeit liegt ganz vorne in der Bewältigungsstatistik. Wer keinen Menschen zum Berühren oder zum Sprechen hat, findet oft Trost in der gefilmten Kopulation anderer, in der Betrachtung expliziter Körperlichkeit, sagt die Pornowissenschaftlerin Madita Oeming. Laut der Sexualwissenschaftlerin Andrea Burri zeigen Studien, dass sich unter anderem einsame, traurig gestimmte Menschen zu Pornos hingezogen fühlen.
Selbst in einer Paarbeziehung kann körperliche und emotionale Einsamkeit riesig sein. Manchmal ist die Einsamkeit der Grund für den Einstieg in die Pornografie, manchmal ist Pornografie aber auch der Grund für die Einsamkeit und die zunehmende Distanz zum Partner oder der Partnerin. Oft entsteht zudem eine unheilvolle Spirale: Weil der eine Pornos guckt, geht der andere auf Distanz, weshalb der oder die Zurückgestossene wieder Trost in den Pornos sucht. Oft ist schwer auszumachen, was Huhn oder Ei war. Doch meist geht einer solchen Situation eine nicht erfüllend erlebte Sexualität voraus. Nicht erfüllte Erwartungen, Enttäuschungen, wenig oder gar nichts in der Sexualität erleben können, wenig Lustempfinden, wenig Zugang zum eigenen Körper und wenig differenzierte Körperwahrnehmung und Genuss. All dies immer bezogen auf sich selbst, auf die eigenen sexuellen Fähigkeiten. Denn oftmals wird der Partner, die Partnerin für das sexuelle Unglück verantwortlich gemacht und dient als Entschuldigung für sexuelle Kompensationshandlungen (Porno, Prostitution, Fremdgang) oder sexuelle Verweigerung. Laut Untersuchungen schadet vor allem der Solo-Pornokonsum einer Paarbeziehung, viel weniger gemeinsam geschaute Pornos. Aussteigen aus der Porno-Spirale bedeutet also auch, als Paar ins Gespräch über die eigene und die gemeinsame Sexualität zu kommen.
Doch danach braucht es praktische Schritte der Verhaltensänderung - wie bei einer Ernährungsumstellung oder anderen Lebensstil-Veränderungen (mehr Sport, früher aufstehen, weniger Smartphone, neues Hobby etc.).
Es geht dabei - und das ist wichtig, zu begreifen - auf keinen Fall darum, sich sexuelle Bedürfnisse abzutrainieren, sondern einzig darum, auf die Bilder als Erregungsquelle zu verzichten und andere Erregungsquellen zu etablieren, solche aus sich selbst, aus dem eigenen Körper, der eigenen Fantasie.
Denn wir Menschen sind nun mal als sexuelle Wesen, geschaffen mit sexuellen Bedürfnissen (mehr dazu hier). Der Körper und das Gehirn pornoabhängiger Menschen ist auf die Logik “Bild gleich Erregung” programmiert. Was bedeutet, Erregung kommt von aussen und nicht von innen aus einem selbst. Nicht aus der eigenen Wahrnehmung der Lust, die aus einem selbst geweckt wird durch Berührung, Stimulation, Bewegung, Ausbreitung und Intensität im Körper durch Atmung, Verstärkung der eigenen Lust, indem man sich lustvoll wahrnimmt. Man könnte sogar behaupten: Menschen, die ihre Lust in der Pornografie finden, spüren sich selbst ganz schlecht. Oft nehmen sie nicht einmal den Orgasmus richtig wahr.
Und wie lerne ich Lust unabhängig von Pornos?
Wie lerne ich lustvolle Wahrnehmung meiner selbst?
Erst einmal vor allem mit mir selbst!
Selbstbefriedigung als Therapie!
Aktiv gelernte lustvolle Selbstbefriedigung,
gelerntes Stillen sexueller Bedürnisse,
gelernte sexuelle Erfüllung mit mir selbst.
Buchtipps zur Selbststimulation von Mann und Frau:
ALLTAGSLUST von Veronika Schmidt (“Was Sex schön macht” S. 134-218)
Zum Programm der Verhaltensänderung
“Dann mach den Scheiss doch einfach nicht!”
Es braucht ein Durchhalte-Programm. Eine Verhaltensänderung benötigt 21 Tage, um einen ersten Gewöhnungseffekt zu erzielen, 60 Tage, um die Verhaltensänderung zu etablieren. Nach 1000 mehrheitlich erfolgreichen Tage ist einem ein neuer Lebensstil definitiv zu eigen geworden. Perfektion hilft nicht. 75 Prozent Gelingen ist gut genug. Wichtig dabei - Genuss etablieren! Allein und zu zweit in der Paarsexualität. Übungseinheiten Selbstliebe: Mindestens 2-3 Mal die Woche, wenn nötig täglich. Dazu sicher 1 Mal die Woche Sex mit Partner*in einplanen. Denn - habt Sex! Nicht nachdenken, einfach loslegen. ***
Am besten führt man ein Verhaltenstagebuch, in welchem man festhält, in welchen Situationen der Impuls stark wird, Pornos zu konsumieren (eine Prostituierte aufzusuchen, Sex-Talks zu führen etc.). Man sollte sich für diese Situation Ersatzbeschäftigungen suchen, die zufriedenstellen und die (bewusst) ablenken (Musik, Sport, Meditation, Gespräche, Lesen, Filme usw.). Vor allem kräftige Dinge helfen, wie intensiver Sport, Aufräum- oder Putzaktionen, Gartenarbeit usw. sein.
Doch der wichtigste Aspekt ist das Einüben genussvoller, regelmässiger Selbststimulation, um einen Lerneffekt zu erzielen.
Am besten plant man die Selbststimulation regelmässig ein, damit Mangelerscheinung und übermässiges Verlangen sich nicht unkontrolliert Bahn brechen. Sollte das Bedürfnis nach Porno (Prostituierte, Sex-Talks) übermächtig werden, sollte man sich als Notausstieg intensiv selbst befriedigen - um den Drang abzureagieren. Auch folgende Akuthilfen aus der Traumatherapie helfen, sich bewusst zu spüren, aus dem Drang-Stress raus und ins “Jetzt” zu kommen:
Gummiband am Handgelenk - Gummi mehrmals ans Handgelenk flitschen lassen.
Kräftig seinen Druck in einen Lufballon blasen - so lange, wie nötig.
Etwas Chili auf die Zunge geben - fegt erst mal alle anderen Gefühle weg.
Spitze Steine oder einen Vulkanstein in der Handfläche zur Faust drücken (Steine in der Hosen- oder Jackentasche aufbewahren).
Im Verhaltenstagebuch führt man Buch darüber, wie man mit der akuten Situation umgegangen ist, welche Massnahmen man getroffen und wie man sich dabei gefühlt hat. Je konsequenter und genauer man das Tagebuch führt, desto besser lernt man sich kennen und seine Impulse einordnen und steuern.
Auch Belohnung ist wichtig. Für jeden Tag ohne Pornokonsum markiert man sich als Belohnung ein Feld. In immer grösser werdenden Abständen darf man sich belohnen. Am besten vorher eine Liste von möglichen Belohnungen erstellen. Je besser es gelingt, desto mehr kommt man vorwärts. Man sollte sich nicht bestrafen oder Belohnungsfelder wieder zurücknehmen.
Ein Entwöhnungsvorschlag anderer Art: Nach zweimaliger bewusster, genussvoller Selbststimulation eine dritte mit Porno, nach dreimaliger bewusster, genussvoller Selbststimulation eine vierte mit Porno, nach viermaliger bewusster, genussvoller Selbststimulation eine fünfte mit Porno usw. usf.
*** “Beziehungen funktionieren oft nicht, weil es ein Problem gibt mit dem Sex”, sagt die bekannte amerikanische Paartherapeutin Esther Perel. “Aber Menschen, die sich nicht mehr berühren, verlieren das gegenseitige Vertrauen. Dadurch steigt die Verunsicherung des Einzelnen, wodurch die Chance, dass es wieder mal zu Sex kommt, weiter sinkt. Wenn Sie wieder oder mehr Sex haben wollen, dann tun sie es einfach. Egal ob in Stimmung oder nicht. Betrachten Sie es als eine Tätigkeit wie das Zähneputzen, es ist eine Notwendigkeit. Legen Sie einfach los, es wird schon klappen, egal wie kurz oder lang oder gut oder schlecht. Tun Sie es einfach! Und Sie werden sich wundern, wie positiv sich das auf Ihre Beziehung insgesamt auswirkt. Es ist nie zu spät. Haben Sie Sex, heute noch!
Quelle: DAS MAGAZIN No 13 - 2020, Zusammengetragen aus diversen Podcasts und Interviews mit der Paaartherapeutin Esther Perel