WAS, WENN MICH MEINE FREUNDIN SPÄTER NICHT MEHR ANZIEHT?
Liebe Veronika
Ich lebe seit ungefähr einem Jahr in einer Beziehung mit einer tollen Frau. Wir sind verlobt. Ich liebe meine Verlobte und staune, was für eine wundervolle Partnerin mit tiefgründigem Charakter ich in ihr gefunden habe. Ich bewundere ihre "innere Schönheit", ihren Charakter, ihre Werte, ihre Interessen und Vorlieben, die uns beide auf vielfältige Weise verbinden. Weshalb ich Dir schreibe? Ich ertappe mich dabei, dass mich Details am Äusseren meiner Verlobten stören, obwohl ich das eigentlich gar nicht möchte. Sie besitzt durchaus eine attraktive Figur und gefällt mir insgesamt. Auch kann ich sie erotisch begehren.
Bevor ich mich mit meiner Freundin verlobte, hatte ich diesen Punkt für mich eigentlich bereits durchdacht und kam zum Entschluss, meine Partnerin müsse nicht die schönste Frau sein, die ich mir vorstellen kann. Damit möchte ich sie vor unerfüllbarem Leistungsdruck und mich vor unausweichlicher Enttäuschung schützen. Trotz dieses Vorsatzes ist das Thema "optische Attraktivität" die letzten Tage bei mir wieder aufgekommen. Wie kann es mir als Mann gelingen, meine Frau ein Leben lang (optisch) attraktiv zu finden? Sollte man sich von diesem Wunschbild verabschieden? Wie auch von der Illusion, immer und ewig verliebt sein zu können?
Inwiefern ist optische Attraktivität nötig, um ein Leben lang eine glückliche Ehe führen zu können? Wie verhält es sich mit der Veränderung des Aussehens im Laufe einer Partnerschaft, beispielsweise durch Schwangerschaften oder Alterungsprozesse? Wie kann es gelingen, seinen Partner dennoch optisch attraktiv zu finden - oder muss man das gar nicht? Wenn es "normal" ist, sich im Lauf einer Ehe irgendwann nicht mehr optisch attraktiv zu finden, fände ich es gut zu wissen, um mich darauf einstellen zu können.
Mir ist es ein Herzensanliegen, ein guter, treuer Ehemann zu werden, der seine Frau liebt und attraktiv findet (auch optisch!) - und ein Leben lang mit ihr glücklich ist. Wenn Du mir hierzu Information und einen Ratschlag geben könntest, wäre ich Dir sehr dankbar!
Liebe Grüße, Benny, 26 Jahre
Lieber Benny
Es ist tatsächlich viel Wunschdenken, was mir da aus Deinen Zeilen entgegen springt. Und hohe Erwartungen, denen eine Liebesbeziehung und die Partnerin schwer standhalten können. Ent-Täuschungen sind deshalb geradezu notwendig. Beginnen wir bei der lebenslangen Attraktivität und dem anhaltenden sexuellen Begehren. Kurz und einfach gesagt: Es ist in der Sexualität vor allem wichtig, wie es sich anfühlt, nicht wie es aussieht. Dies ist der Schlüssel für eine erfüllende und befriedigende Sexualität über lange Jahre und Jahrzehnte einer Beziehung. Der schöne Körper garantiert keineswegs sexuelle Erfüllung. Eine Betrachtungsweise wie Deine unterliegt einem entscheidenden Irrtum. Du nimmst die Quelle des sexuellen Begehrens aus der Attraktivität, aus dem Aussehen des Gegenübers. Oder eben das Nichtbegehren aus dem, was dir nicht gefällt. Attraktives Äusseres ist zwar ein legitimer Teil der Anziehung. Doch die grundlegende Fehlannahme ist, die Erregungsquelle komme von aussen und nicht aus einem selbst.
Deshalb “funktioniert” Pornografie so gut und macht so leicht abhängig. Pornografie affine Männer haben sich darauf programmiert, die Erregung über ihre Augen durch die Bilder zu wecken. Viele können dabei sich selbst und was in ihrem Körper vor sich geht, gar nicht richtig wahrnehmen. Ihr Fokus richtet sich nicht auf die eigenen Empfindungen und Emotionen, sondern ihre Wahrnehmung ist nach aussen auf die Bilder gerichtet. Speisen sich sexuelle Anziehung und das Liebesgefühl allein aus der Attraktivität oder aus dem, was einem vom Gegenüber an Leidenschaft entgegenkommt, sind Frust und Langeweile vorprogrammiert.
Ein treuer Ehemann werden bedeutet, Sexualität vor allem über die Wahrnehmung und das Empfinden zu leben. Du kannst lernen, sexuelle Erregung aus Deinem eigenen Körper zu wecken (Stichworte Beckenboden, Atem, Beckenschaukel, erotische Fantasien von sich selbst usw.). Es ist die Erregung aus Dir selbst, die Deine Lust weckt und trägt, und die Du dann in die Liebes- und Sexbeziehung einbringst. Ich würde Euch sehr empfehlen, mein Buch LIEBESLUST zusammen zu lesen und in Eurer späteren Sexbeziehung mit den vielen Anregungen aus dem Buch ALLTAGSLUST zu experimentieren. Sexuelles Lernen ist sehr vielfältig und hält ein Leben lang an. Je mehr man davon entdeckt und lebt, desto stabiler kann das sexuelle Erleben über lange Jahre sein. Sexualität verändert sich zudem immer wieder.
Sexualität und sexuelles Lusterleben müssen wir, wie alle anderen Fähigkeiten, erlernen. Lust, Lust auf Sex, sexuelle Bedürfnisse sind nicht automatisch gegeben. In Bezug auf den sexuellen Lernweg ist uns mit der Geburt allein nur der genitale Erregungsreflex mitgegeben. Auf dem Erregungsreflex baut sich sexuelles Lernen auf, so wie sich andere Fähigkeiten auf den weiteren körperlichen Reflexen aufbauen (Atemreflex, Schluckreflex, Bewegungsreflexen etc.). In der Sexualität entstehen auf diese Weise die sexuellen und erotischen Fähigkeiten. Dabei unterscheiden wir körperliche Fähigkeiten und emotionale Fähigkeiten.
Körperliche Fähigkeiten sind
Sinnesempfindungen, vielfältige Stimulationsmöglichkeiten, Bewegungsvarianten des Körpers, vielfältige Berührungserfahrungen am ganzen Körper und des Geschlechtsorgans – bei der Frau vor allem auch im vaginalen Innenraum, die Art und Weise der Erregungssteigerung und Entladung.
Emotionale Fähigkeiten sind
Gerne seinem eigenen Geschlecht angehören und stolz darauf zu sein. Dann ist es die Fähigkeit, seinen Körper gut zu bewohnen. Was bedeutet, sich seiner Geschlechtlichkeit und seinen sexuellen Empfindungen bewusst zu sein, man nennt es auch sexuelle Selbstsicherheit entwickeln. Weitere emotionale Fähigkeiten sind: sexuelle Fantasien erleben und entwickeln können, sexuelles Begehren wecken können, Lust erleben können, sexuelle Intensität entwickeln und ganz besonders, den anderen und sich selbst erotisieren zu können. Was bedeutet, Vorstellungen von sexueller Attraktivität über sich selbst und den anderen zu haben, also sein eigenes Geschlechtsorgan und das des Partners lustvoll erleben und «geil» finden können.
Beziehungsfähigkeiten sind ebenfalls nicht einfach automatisch gegeben
Wir alle lernen im Laufe unserer Entwicklung hoffentlich Liebesbegehren hin zu einem anderen Menschen zu entwickeln - auch Sehnen oder Sehnsucht genannt. Weiter gehören zu den Beziehungsfähigkeiten zudem Bindungsfähigkeit, Verführungsfähigkeit, konstruktive Kommunikation und ebenso die Fähigkeit, Intimität und Distanz zu erotisieren. Und nicht zu vergessen, die praktischen erotischen Fähigkeiten, dem anderen Lust zu bereiten. Ob wir dieses Lernen unbeschwert entwickeln können, wird von unseren Glaubens- und Denkmustern bestimmt, hängt ab von den uns vermittelten oder sich selbst angeeigneten Kenntnissen, hängt ab von Wissen und Unwissen, Ideologien, Idealisierungen, Werten und Normen, von vorgelebten und verinnerlichten Geschlechterrollen, von geglaubten Mythen.
Hohe Ideale, und die kommen mir in Deinem Schreiben entgegen, können ein unbeschwertes Geniessen und Entdecken tatsächlich erschweren. Perfektionismus passt nicht gut zu Liebe und Sex. Loslassen auf allen Ebenen ist deshalb angeraten. Mir fällt einmal mehr der prägnante Buchtitel “Liebe Dich selbst, und es ist egal, wen Du heiratest” von Eva-Maria Zurhorst ein. Liebe Dich selbst. Finde Dich selbst attraktiv und sexy und tue etwas dafür, es über die Jahrzehnte zu bleiben. Konzentriere Dich darauf, gut zu finden, was Du wahrnimmst und erlebst, dann wird es Dir nicht schwer fallen, Deine Frau attraktiv zu finden. Dann wirst Du erleben, wie Du jede Falte am Körper Deiner Frau liebst, weil es die Falten der Frau sind, mit der Du begehrst zusammen zu sein.
Herzlich – Veronika