ICH BIN EINE "EVANGELICAL KILLJOY" - EINE EVANGELIKALE SPIELVERDERBERIN UND SPASSBREMSE
Veronika Schmidt
“Wer die Zukunft verändern will, muss die Gegenwart stören.”
Catherine Booth
Mitbegründerin der Heilsarmee und Vorkämpferin für Frauenrechte
Den Begriff evangelical killjoy gibt es noch nicht. Doch hiermit sei er lanciert. Abgewandelt vom Begriff feminist killjoy, der bedeutet: eine Person, die anderen manchmal die Stimmung verdirbt. Ursprünglich in der Sache des Feminismus oder nun eben in der Sache “Evangelikalismus”. Das könnte zu weiteren Wortschöpfungen führen wie evangelical feminist killjoy...
Geprägt wurde der Begriff von der Wissenschaftlerin Sara Ahmed, die sich mit Feminismus und postkolonialer Theorie beschäftigt. Sie sagt, das, was wir heute als harmonischen Status quo bezeichnen, ist zu einem grossen Teil nur möglich, weil viele, die unglücklich sind, darüber schweigen. Deshalb brauche es Leute, die an dieser Alles-läuft-doch-top-Illusion kratzen. Eben unter anderem die feminist killjoys. So, wie die deutschen “Störenfriedas”, ein Blog für Feminismus.
Doch wer will gerne freiwillig eine Spassbremse und ein Störenfried, eine Störenfrieda, eine EVAlutionärin sein? Indem er oder sie andere in Erklärungsnot bringt, statt einfach mitlacht, lächelt oder schweigt oder jede Unstimmigkeit sofort zu schlichten und zu glätten versucht? Wer will freiwillig Worte wie Sexismus oder Rassismus in den Mund nehmen oder an der eigenen christlichen Lebenswelt Kritik üben, obwohl damit die Stimmung ungemütlich wird? Sara Ahmed selbst erklärt in ihrem Buch “Das Glücksversprechen” (2010), dass sie selbst nicht immer eine feminist killjoy war. Sie habe jahrelang über jedes Unrecht hinweggelächelt - aus Angst, sie könnte andere vor den Kopf stossen. Doch dann habe sie angefangen, zu ihren Ansichten zu stehen, und habe gemerkt, das sei keine dankbare Rolle.
Oh nein, dankbar ist diese Rolle nicht. Aber vielleicht notwendig. Oh ja, es ist nicht angenehm, die zu sein, die dafür sorgt, dass die Stimmung im Eimer ist. Die zu sein, die zu hören bekommt: “Ach, die schon wieder! “ So, wie feminist killjoys, müssen auch evangelical killjoys damit rechnen, dass man ihnen vorwirft: “Es war doch alles gut, bis du mit deinem Gstürm anfingst!” “Jetzt rede doch nicht die ganze Zeit über Gleichberechtigung oder Sexualität, das macht doch alles nur noch schlimmer!” “Du bist eine Unruhestifterin und verführst die Leute!” “Du verunsicherst und verwirrst die Leute!” So, als würde das Darüberreden das Problem mit der Sexualität und der Ungleichheit in der christlichen Lebenswelt erst heraufbeschwören - oder am Leben erhalten.
Dabei ist es genau andersherum. Feminist killjoys oder evangelical killjoys sprechen über entsprechende Benachteiligungen, Unstimmigkeiten und Problemfelder, weil es sie gibt und weil wir Wege finden sollten, sie zu überwinden. Nicht weil sie recht haben wollen, sondern weil die Kritik berechtigt ist und im Bewusstsein gehalten werden soll. Oftmals wenn Unrecht benannt wird, stört das vor allem jene, die gar nicht unmittelbar davonbetroffen sind. Oftmals geht es ihnen auch nicht darum, das genannte Problem wirklich anzuschauen, sondern die Kirche im Dorf zu behalten.
Der einfachste Weg vom Problem abzulenken ist, den Überbringer oder die Überbringerin der schlechten Botschaft anzugreifen und zu diskreditieren. Man spielt auf den Mann, auf die Frau. Nach dem Motto - benennst du ein Problem, wirst du zum Problem. Das Problem selbst zu besprechen wird möglichst umgangen. Als Frau wirst du ganz schnell als emotional instabil deklariert. Die Emotionalität wird das Problem. Der Begriff dafür ist “tone policing “ - Tonpolizei. Tone policing kritisiert eine Person (vorzugsweise Frauen) dafür, dass sie Emotionen zeigt oder ausdrückt. Die “Tonüberwachung” stellt die Gültigkeit einer Aussage infrage, indem sie den Ton angreift, in welchem die Nachricht präsentiert wurde, und nicht die Nachricht selbst. Vor allem natürlich auch dann, wenn die Aussage, die aufregt, nicht schlüssig entkräftet werden kann.
Vor allem Frauen wird ihre Emotionalität zur Waffe gemacht, die sich gegen sie selbst richtet. Besonders die Wut. Im Gegensatz zu Frauen wird Männern Wut zugestanden, sie wird situativ sogar erwartet. Frauen wird immer eingetrichtert, dass ihre Wut nicht berechtigt sei, dass ihre Wut eine Übertreibung ist, dass sie unweiblich ist und ihnen schlussendlich zum Nachteil gereicht. Wut ist etwas, das Frauen und Mädchen nicht ausdrücken sollen, weil es sie hässlich und unsympathisch macht. Oder die Pointiertheit. Was einem Mann zur Ehre gereicht, macht eine Frau ungeniessbar.
Letzthin meinte ein Mann, man würde mir vermutlich eher zuhören, wenn ich mich weniger pointiert ausdrücken würde. Abgesehen davon, dass mir sehr viele Leute zuhören, die Frage ist nur welche, attestiert man pointierten Männern per Definition eher eine deutliche, genaue, gezielte und treffende Ausdrucksweise, während man Aussagen pointierter Frauen als scharf, überspitzt und zugespitzt bezeichnet. Fleissig wird perfide über mich herumgereicht, dass ich verletzt sei. Veronika Schmidt sei eine verletzte Persönlichkeit, die sich nun in der Öffentlichkeit Geltung verschaffen wolle. Angewandtes tone policing, mit dem man alle angesprochenen Themen versucht unter den Tisch zu wischen.
Kann ich das aushalten? Ja, ich kann! Weil ich weiss, dass Gott mein Herz ansieht. Weil ich ein total stabiles Umfeld von Paarbeziehung, Familie und Freunden habe. Weil ich von mir selbst weiss, dass ich mich in meinem sechzig Jahre dauernden Leben mit viel Herzblut und unbemerkt von der Öffentlichkeit kompetent und nachhaltig für viele Menschen und Projekte eingesetzt habe. Brauche ich die Öffentlichkeit? Um Himmelswillen nein! Ich habe sie nie gesucht. Ich würde sie meiden, wenn mir nicht die Sache am Herzen liegen würde. Das Unbehagen und die Not vieler Menschen in der christlichen Lebenswelt haben mich dazu gebracht, über Sex, sexuelle Gerechtigkeit und Geschlechterungerechtigkeit zu schreiben und zu reden, was mich vor gerade mal sechs (!) Jahren an die Öffentlichkeit spülte. Braucht die evangelikale Öffentlichkeit mich als evangelical killjoy? Offensichtlich schon. Solange Gott will, werde ich bleiben.
RAUS AUS DER PORNOSPIRALE - SO GELINGT'S
Veronika Schmidt
Wer erfolgreich aus dem Pornokonsum aussteigen will, muss erst verstehen, weshalb so viele Veränderungswillige an ihrem Vorhaben scheitern. Hauptsächlich deshalb, weil der Ausstieg aus dem Konsum der Bilder nicht entkoppelt wird von der Selbstbefriedigung! Ein Systemfehler!
Die folgenden Tipps sind nicht nur in der Sexualtherapie praxiserprobt, sondern auch nachhaltig. Und immer wieder aufs Neue anwendbar.
Kaum lag der Corona-Lockdown in der Luft, reagierte die Porno-Branche flink. Es gab Gratisangebote und extra Themen-Serien zu Corona- und Quarantäne. Die günstige Gelegenheit wurde rege genutzt. Zunehmend auch von Frauen. Nach einem ersten steilen Anstieg haben sie die Zahlen des Porno-Traffic im Internet während des Lockdowns in der Schweiz bei fünfzehn Prozent über dem Durchschnitt eingependelt. Doch für viele Menschen ist der langfristige Konsum von Pornografie mehr Last als Lust. Weshalb ist das so und wie gelingt der Ausstieg?
Weshalb werden überhaupt Pornos geschaut? Auch wenn Lustgewinn und Neugier (mindestens zu Beginn) als Motivation nahe liegen, so ist Pornokonsum hauptsächlich eine Bewältigungsstrategie und Trostpflaster für vielerlei. Für Frust, Langeweile, Stress, Wut, Unzufriedenheit, Unsicherheit, Unverstandensein, Berührungsmangel, Einsamkeit aber auch aus Konfliktscheu und Bequemlichkeit (Paarsex ist anstrengender). Durch den Konsum der erregenden Bilder und durch den meist herbeigeführten Orgasmus entspannen sich Menschen und überstehen so Drucksituationen besser. Einsamkeit liegt ganz vorne in der Bewältigungsstatistik. Wer keinen Menschen zum Berühren oder zum Sprechen hat, findet oft Trost in der gefilmten Kopulation anderer, in der Betrachtung expliziter Körperlichkeit, sagt die Pornowissenschaftlerin Madita Oeming. Laut der Sexualwissenschaftlerin Andrea Burri zeigen Studien, dass sich unter anderem einsame, traurig gestimmte Menschen zu Pornos hingezogen fühlen.
Selbst in einer Paarbeziehung kann körperliche und emotionale Einsamkeit riesig sein. Manchmal ist die Einsamkeit der Grund für den Einstieg in die Pornografie, manchmal ist Pornografie aber auch der Grund für die Einsamkeit und die zunehmende Distanz zum Partner oder der Partnerin. Oft entsteht zudem eine unheilvolle Spirale: Weil der eine Pornos guckt, geht der andere auf Distanz, weshalb der oder die Zurückgestossene wieder Trost in den Pornos sucht. Oft ist schwer auszumachen, was Huhn oder Ei war. Doch meist geht einer solchen Situation eine nicht erfüllend erlebte Sexualität voraus. Nicht erfüllte Erwartungen, Enttäuschungen, wenig oder gar nichts in der Sexualität erleben können, wenig Lustempfinden, wenig Zugang zum eigenen Körper und wenig differenzierte Körperwahrnehmung und Genuss. All dies immer bezogen auf sich selbst, auf die eigenen sexuellen Fähigkeiten. Denn oftmals wird der Partner, die Partnerin für das sexuelle Unglück verantwortlich gemacht und dient als Entschuldigung für sexuelle Kompensationshandlungen (Porno, Prostitution, Fremdgang) oder sexuelle Verweigerung. Laut Untersuchungen schadet vor allem der Solo-Pornokonsum einer Paarbeziehung, viel weniger gemeinsam geschaute Pornos. Aussteigen aus der Porno-Spirale bedeutet also auch, als Paar ins Gespräch über die eigene und die gemeinsame Sexualität zu kommen.
Doch danach braucht es praktische Schritte der Verhaltensänderung - wie bei einer Ernährungsumstellung oder anderen Lebensstil-Veränderungen (mehr Sport, früher aufstehen, weniger Smartphone, neues Hobby etc.).
Es geht dabei - und das ist wichtig, zu begreifen - auf keinen Fall darum, sich sexuelle Bedürfnisse abzutrainieren, sondern einzig darum, auf die Bilder als Erregungsquelle zu verzichten und andere Erregungsquellen zu etablieren, solche aus sich selbst, aus dem eigenen Körper, der eigenen Fantasie.
Denn wir Menschen sind nun mal als sexuelle Wesen, geschaffen mit sexuellen Bedürfnissen (mehr dazu hier). Der Körper und das Gehirn pornoabhängiger Menschen ist auf die Logik “Bild gleich Erregung” programmiert. Was bedeutet, Erregung kommt von aussen und nicht von innen aus einem selbst. Nicht aus der eigenen Wahrnehmung der Lust, die aus einem selbst geweckt wird durch Berührung, Stimulation, Bewegung, Ausbreitung und Intensität im Körper durch Atmung, Verstärkung der eigenen Lust, indem man sich lustvoll wahrnimmt. Man könnte sogar behaupten: Menschen, die ihre Lust in der Pornografie finden, spüren sich selbst ganz schlecht. Oft nehmen sie nicht einmal den Orgasmus richtig wahr.
Und wie lerne ich Lust unabhängig von Pornos?
Wie lerne ich lustvolle Wahrnehmung meiner selbst?
Erst einmal vor allem mit mir selbst!
Selbstbefriedigung als Therapie!
Aktiv gelernte lustvolle Selbstbefriedigung,
gelerntes Stillen sexueller Bedürnisse,
gelernte sexuelle Erfüllung mit mir selbst.
Buchtipps zur Selbststimulation von Mann und Frau:
ALLTAGSLUST von Veronika Schmidt (“Was Sex schön macht” S. 134-218)
Zum Programm der Verhaltensänderung
“Dann mach den Scheiss doch einfach nicht!”
Es braucht ein Durchhalte-Programm. Eine Verhaltensänderung benötigt 21 Tage, um einen ersten Gewöhnungseffekt zu erzielen, 60 Tage, um die Verhaltensänderung zu etablieren. Nach 1000 mehrheitlich erfolgreichen Tage ist einem ein neuer Lebensstil definitiv zu eigen geworden. Perfektion hilft nicht. 75 Prozent Gelingen ist gut genug. Wichtig dabei - Genuss etablieren! Allein und zu zweit in der Paarsexualität. Übungseinheiten Selbstliebe: Mindestens 2-3 Mal die Woche, wenn nötig täglich. Dazu sicher 1 Mal die Woche Sex mit Partner*in einplanen. Denn - habt Sex! Nicht nachdenken, einfach loslegen. ***
Am besten führt man ein Verhaltenstagebuch, in welchem man festhält, in welchen Situationen der Impuls stark wird, Pornos zu konsumieren (eine Prostituierte aufzusuchen, Sex-Talks zu führen etc.). Man sollte sich für diese Situation Ersatzbeschäftigungen suchen, die zufriedenstellen und die (bewusst) ablenken (Musik, Sport, Meditation, Gespräche, Lesen, Filme usw.). Vor allem kräftige Dinge helfen, wie intensiver Sport, Aufräum- oder Putzaktionen, Gartenarbeit usw. sein.
Doch der wichtigste Aspekt ist das Einüben genussvoller, regelmässiger Selbststimulation, um einen Lerneffekt zu erzielen.
Am besten plant man die Selbststimulation regelmässig ein, damit Mangelerscheinung und übermässiges Verlangen sich nicht unkontrolliert Bahn brechen. Sollte das Bedürfnis nach Porno (Prostituierte, Sex-Talks) übermächtig werden, sollte man sich als Notausstieg intensiv selbst befriedigen - um den Drang abzureagieren. Auch folgende Akuthilfen aus der Traumatherapie helfen, sich bewusst zu spüren, aus dem Drang-Stress raus und ins “Jetzt” zu kommen:
Gummiband am Handgelenk - Gummi mehrmals ans Handgelenk flitschen lassen.
Kräftig seinen Druck in einen Lufballon blasen - so lange, wie nötig.
Etwas Chili auf die Zunge geben - fegt erst mal alle anderen Gefühle weg.
Spitze Steine oder einen Vulkanstein in der Handfläche zur Faust drücken (Steine in der Hosen- oder Jackentasche aufbewahren).
Im Verhaltenstagebuch führt man Buch darüber, wie man mit der akuten Situation umgegangen ist, welche Massnahmen man getroffen und wie man sich dabei gefühlt hat. Je konsequenter und genauer man das Tagebuch führt, desto besser lernt man sich kennen und seine Impulse einordnen und steuern.
Auch Belohnung ist wichtig. Für jeden Tag ohne Pornokonsum markiert man sich als Belohnung ein Feld. In immer grösser werdenden Abständen darf man sich belohnen. Am besten vorher eine Liste von möglichen Belohnungen erstellen. Je besser es gelingt, desto mehr kommt man vorwärts. Man sollte sich nicht bestrafen oder Belohnungsfelder wieder zurücknehmen.
Ein Entwöhnungsvorschlag anderer Art: Nach zweimaliger bewusster, genussvoller Selbststimulation eine dritte mit Porno, nach dreimaliger bewusster, genussvoller Selbststimulation eine vierte mit Porno, nach viermaliger bewusster, genussvoller Selbststimulation eine fünfte mit Porno usw. usf.
*** “Beziehungen funktionieren oft nicht, weil es ein Problem gibt mit dem Sex”, sagt die bekannte amerikanische Paartherapeutin Esther Perel. “Aber Menschen, die sich nicht mehr berühren, verlieren das gegenseitige Vertrauen. Dadurch steigt die Verunsicherung des Einzelnen, wodurch die Chance, dass es wieder mal zu Sex kommt, weiter sinkt. Wenn Sie wieder oder mehr Sex haben wollen, dann tun sie es einfach. Egal ob in Stimmung oder nicht. Betrachten Sie es als eine Tätigkeit wie das Zähneputzen, es ist eine Notwendigkeit. Legen Sie einfach los, es wird schon klappen, egal wie kurz oder lang oder gut oder schlecht. Tun Sie es einfach! Und Sie werden sich wundern, wie positiv sich das auf Ihre Beziehung insgesamt auswirkt. Es ist nie zu spät. Haben Sie Sex, heute noch!
Quelle: DAS MAGAZIN No 13 - 2020, Zusammengetragen aus diversen Podcasts und Interviews mit der Paaartherapeutin Esther Perel
SELBSTBEFRIEDIGUNG ALS THERAPIE
Veronika Schmidt
Ich werde nicht nachlassen, unermüdlich zu postulieren, dass Selbstbefriedigung einen wichtigen Aspekt des Menschwerdens entwickelt! Nämlich seine Sexualität und deren Genussfähigkeit!
Selbstberührungen sind ein wichtiger Teil der sexuellen Entwicklung des Menschen. Denn sexuelles Lernen geschieht über Selbsterfahrung. Zudem werden sexuelle Bedürfnisse schon seit Menschengedenken auch durch Solosex befriedigt. Aber auch in der Therapie nimmt die Selbststimulation eine wichtige Schlüsselrolle ein für die Bewältigung vieler sexueller Probleme: “Lernen durch Selbstbefriedigung”. Selbstbefriedigung ist eine Ressource. Selbstbefriedigung kann helfen gegen Einsamkeit. Selbstbefriedigung ist gesund, weil Sex gesund ist. Orgasmen sind gesund. Selbstbefriedigung ist das Natürlichste der Welt. Aber leider ebenso das Verdammteste.
Generationenlang wurden uns vor allem sexuelle Sündenkataloge vermittelt, nicht aber sexuelle Freuden. Das kollektive gesellschaftliche Selbstbefriedigungstrauma sitzt tief, egal ob wir religiös sind oder nicht. Denn religiös geprägt sind wir alle. Vor nicht allzu langer Zeit waren Gesellschaft und Kirche eins und bestimmten über Sein und Nichtsein. Sexualfeindlichkeit ist kulturell bedingt.
Selbstbefriedigung ist ein wichtiger Aspekt des Menschwerdens und der Entwicklung der Sexualität. Doch noch wichtiger als die Frage ob sie geschieht, ist die Frage wie sie geschieht. Denn nicht jede zur Gewohnheit verfestigte Selbstbefriedigung ist hilfreich. Gerade, weil verboten, haben viele Menschen eine hastige, mechanische, druckvolle, Orgasmus fixierte Selbstbefriedigung entwickelt. Mit hoher Körperspannung, ohne wirklichen Genuss, oft nicht bei sich selbst mit der Wahrnehmung, sondern in irgendwelchen erregenden Bildern. Gerade dieses “Nicht-bei-sich-sein” kann zu übermässiger Selbststimulation führen, weil einen das Erlebte nicht genussvoll sättigt. Doch auch die “Unbefleckten” haben ein Problem. Denn die Moral hat sie nicht nur vor Selbstbefleckung (übrigens kein biblisches Wort - just saying) abgehalten, ganz vielen steht die Moral im Erwachsenenalter vor dem Erleben erfüllender Lust.
Durch Selbstberührungen lernen wir schon im Kindesalter mit und an uns selbst Zärtlichkeit. Wir lernen sowohl Zärtlichkeit zu geben, als auch Zärtlichkeit entgegen zu nehmen. Ebenso ermöglicht Selbstberührung die Entwicklung von Selbstliebe, Selbstakzeptanz, Selbstbewusstsein, Selbstgefühl, Selbstsicherheit und sexuelle Selbstsicherheit. Es geht im weitesten Sinn darum, den Penis oder die Vulva und Vagina mit sich selbst in Verbindung zu bringen. Und im Speziellen geht es im Laufe der sexuellen Entwicklung darum, die Verbindung zur eigenen Erektionsfähigkeit und zur eigenen Lust herzustellen.
Das sexuelle Lernen baut sich einzig und allein auf dem genitalen Erregungsreflex auf, der uns von Anfang an, wie alle anderen Reflexe für die menschlichen Lernprozesse, mitgegeben ist. Doch wird die Fähigkeit zur Erregung im Lauf der Entwicklung nicht mit mir selbst, meinen Geschlechtsorganen, meinem Körper und meinem erotischen Empfinden in Verbindung gebracht, verschwindet diese allmählich. Und muss allenfalls zu einem späteren Zeitpunkt mühselig reaktiviert werden.
Der meistgehörte Satz in meiner Beratungs- und Vortragstätigkeit ist: “Das hätten wir vor zwanzig, dreissig, vierzig, fünzig Jahren hören sollen. Dann wäre alles anders verlaufen.”
Der zweithäufigste Satz lautet: “Ausser mit Ihnen kann man ja mit niemandem darüber reden.” Ich hatte schon viele Gespräche mit älteren Menschen, die sehr traurig von ihrem verkorksten Sex- und Paarleben erzählten. Hauptsächlich aufgrund der fehlenden Ermutigung und Betonung der Wichtigkeit eines sexuellen Lernwegs und fehlender Vermittlung von Wertschätzung sexueller Lust und Selbstbefriedigung. Doch es ist nie zu spät. Ich habe schon einige über Siebzigjährige auf dem Weg ihrer Lustfindung ermutigt und beraten.
Die “Therapie Selbstbefriedigung” eignet sich für alle sexuellen “Störungen”. Erektionsstörungen, zu früh Kommen, keine Lust, dranghafte Lust, keinen Orgasmus, zu wenig spüren beim Geschlechtsverkehr, zu wenig erleben beim Geschlechtsverkehr, nicht penetrieren wollen, nicht aufnehmen können (Vaginismus), Schmerzen beim Sex, Ekel vor den Geschlechtsorganen, Ekel vor den Gerüchen, Ekel vor den Flüssigkeiten, kein sexuelles Begehren. Ebenso bei sexuellen Abhängigkeiten von Porno, Prostitution, Gelegenheitssex, Fetischen und und und… Immer geht es dabei darum, einen besseren Bezug zum eigenen Körper, zu seinen Empfindungen, zu seinen Gefühlen, zu differenzierten Wahrnehmungen seiner selbst zu bekommen. Und damit darum, die Angst und den Stress in Bezug auf Schmerz, Versagen und Einsamkeit zu überwinden und Sexualität neu zu entwickeln.
Die Therapie Selbstbefriedigung ist ebenso hilfreich, um das eigene Sexleben immer wieder neu zu entdecken. Denn Sexualität verändert sich ein Leben lang. Der Körper verändert sich ein Leben lang. Die Paarbeziehung verändert sich ein Leben lang. Plötzlich muss oder will man etwas Neues lernen, weil das Alte vielleicht nicht mehr zufriedenstellend funktioniert. Und oft lernen wir am besten erst einmal nur mit uns allein, bis wir uns wieder sicher fühlen, um es wieder in die Paarsexualität einbringen zu können.
Deshalb - seid lieb und verständnisvoll zu Eurem Penis, Eurer Vulva und Vagina! Nehmt sie ernst. Lehrt sie Erotik. Erlernt gemeinsam mit ihnen erotische Fähigkeiten. Beginnt, Euer Sexleben genussvoll zu gestalten. Lasst Euch Zeit dabei. Seid weder auf die Penetration noch auf den Orgasmus fixiert. Sex ist noch viel, viel mehr als das. Lernt, den Weg zum Orgasmus ebenso zu geniessen, wie den Orgasmus selbst! Der Schlüssel ist - wie bei allen anderen Fähigkeiten - üben, üben, üben.
Und so geht’s!
Buchtipps zur Selbststimulation von Mann und FrauALLTAGSLUST von Veronika Schmidt (“Was Sex schön macht” S. 134-218)
SINNLICHE INTIMITÄT von Susanne-Sitari Rescio
Sex ist gesund - auch Solosex:
Menschen sind sexuelle Wesen. Die Sexualorgane erfüllen einen ureigenen Zweck, stellen etwa die gesunde Funktionalität der Körper-Hirn-Einheit sicher. Erlebte Lust, entweder in der Selbstliebe oder in einer Paarbeziehung, setzt einen Cocktail aus Hormonen und anderen Botenstoffen frei, der nicht nur für Lusterleben und Liebesbindung sorgt, sondern auch körperliches und emotionales Wohlbefinden und ein starkes Selbstbewusstsein bewirkt. Ein Orgasmus erhöht den Grundumsatz des normalen Hormoncocktails im Körper um den Faktor 1000. Die Wirkung hält bis 48 Stunden an.
Wenn der Sex mindestens zwanzig Minuten dauert, wird die Produktion des Botenstoffes Dopamin angeregt. Dopamin bewirkt einen intensiven und anhaltenden Stressabbau. Auch die Ausschüttung von Endorphinen nimmt mit der Sex-Dauer zu. Die opiumähnliche Substanz führt zu einem Glücksgefühl und lässt Schmerzen vergessen, besonders Kopf- und Gelenkschmerzen.
Sex verbessert die Prostata-Gesundheit. Samenflüssigkeit wird zu etwa dreißig Prozent in der Prostata erzeugt. Beim Orgasmus zieht sich die Wandmuskulatur der Prostata zusammen und die Samenflüssigkeit wird in die Harnröhre gepumpt. Leidet der Mann an einer Entzündung der Prostata, fördert jede Ejakulation das Ausschwemmen infektiöser Keime aus den unteren Harn- und Spermawegen.
Sex kann den Zyklus regulieren. Wer einen unregelmäßigen Zyklus hat, sollte mindestens einmal pro Woche Sex haben. Außerdem bemerken viele Frauen, dass sie weniger Krämpfe haben, wenn sie während ihrer Periode masturbieren.
Sex ist ein Jungbrunnen. Beim Sex wird Somatropin, ein Wachstumshormon aus der Hypophyse (einer Hormondrüse) ausgeschüttet. Das macht die Haut elastischer und lässt einen jünger aussehen.
Sex stärkt die Abwehrkräfte. Frauen, die mehr Sex haben, haben mehr Antikörper im Blut – und somit ein stärkeres Immunsystem.
Der Gesundheit zuliebe sollte man sich häufig küssen. Küssen regt die Speichelproduktion für längere Zeit an. Speichel ist reich an körpereigenen Antikörpern, welche viele Krankheitserreger bekämpfen. Speichelfluss führt außerdem zu schöneren Zähnen. Auch Samenflüssigkeit macht die Zähne schön, denn sie enthält Zink und Calcium. Beides beugt Karies vor.
Sex macht intelligent. Grund dafür ist, dass wir uns dabei entspannen und das Gehirn mehr Nervenzellen produzieren kann.
Sex ist ein Schlafmittel. Orgasmen senken das Stresshormon Cortisol und steigern die Östrogenwerte, was uns nach dem Sex in einen tiefen Schlaf fallen lässt.
aus ALLTAGSLUST Seite 132