SELBSTBEFRIEDIGUNG ALS THERAPIE
Veronika Schmidt
Ich werde nicht nachlassen, unermüdlich zu postulieren, dass Selbstbefriedigung einen wichtigen Aspekt des Menschwerdens entwickelt! Nämlich seine Sexualität und deren Genussfähigkeit!
Selbstberührungen sind ein wichtiger Teil der sexuellen Entwicklung des Menschen. Denn sexuelles Lernen geschieht über Selbsterfahrung. Zudem werden sexuelle Bedürfnisse schon seit Menschengedenken auch durch Solosex befriedigt. Aber auch in der Therapie nimmt die Selbststimulation eine wichtige Schlüsselrolle ein für die Bewältigung vieler sexueller Probleme: “Lernen durch Selbstbefriedigung”. Selbstbefriedigung ist eine Ressource. Selbstbefriedigung kann helfen gegen Einsamkeit. Selbstbefriedigung ist gesund, weil Sex gesund ist. Orgasmen sind gesund. Selbstbefriedigung ist das Natürlichste der Welt. Aber leider ebenso das Verdammteste.
Generationenlang wurden uns vor allem sexuelle Sündenkataloge vermittelt, nicht aber sexuelle Freuden. Das kollektive gesellschaftliche Selbstbefriedigungstrauma sitzt tief, egal ob wir religiös sind oder nicht. Denn religiös geprägt sind wir alle. Vor nicht allzu langer Zeit waren Gesellschaft und Kirche eins und bestimmten über Sein und Nichtsein. Sexualfeindlichkeit ist kulturell bedingt.
Selbstbefriedigung ist ein wichtiger Aspekt des Menschwerdens und der Entwicklung der Sexualität. Doch noch wichtiger als die Frage ob sie geschieht, ist die Frage wie sie geschieht. Denn nicht jede zur Gewohnheit verfestigte Selbstbefriedigung ist hilfreich. Gerade, weil verboten, haben viele Menschen eine hastige, mechanische, druckvolle, Orgasmus fixierte Selbstbefriedigung entwickelt. Mit hoher Körperspannung, ohne wirklichen Genuss, oft nicht bei sich selbst mit der Wahrnehmung, sondern in irgendwelchen erregenden Bildern. Gerade dieses “Nicht-bei-sich-sein” kann zu übermässiger Selbststimulation führen, weil einen das Erlebte nicht genussvoll sättigt. Doch auch die “Unbefleckten” haben ein Problem. Denn die Moral hat sie nicht nur vor Selbstbefleckung (übrigens kein biblisches Wort - just saying) abgehalten, ganz vielen steht die Moral im Erwachsenenalter vor dem Erleben erfüllender Lust.
Durch Selbstberührungen lernen wir schon im Kindesalter mit und an uns selbst Zärtlichkeit. Wir lernen sowohl Zärtlichkeit zu geben, als auch Zärtlichkeit entgegen zu nehmen. Ebenso ermöglicht Selbstberührung die Entwicklung von Selbstliebe, Selbstakzeptanz, Selbstbewusstsein, Selbstgefühl, Selbstsicherheit und sexuelle Selbstsicherheit. Es geht im weitesten Sinn darum, den Penis oder die Vulva und Vagina mit sich selbst in Verbindung zu bringen. Und im Speziellen geht es im Laufe der sexuellen Entwicklung darum, die Verbindung zur eigenen Erektionsfähigkeit und zur eigenen Lust herzustellen.
Das sexuelle Lernen baut sich einzig und allein auf dem genitalen Erregungsreflex auf, der uns von Anfang an, wie alle anderen Reflexe für die menschlichen Lernprozesse, mitgegeben ist. Doch wird die Fähigkeit zur Erregung im Lauf der Entwicklung nicht mit mir selbst, meinen Geschlechtsorganen, meinem Körper und meinem erotischen Empfinden in Verbindung gebracht, verschwindet diese allmählich. Und muss allenfalls zu einem späteren Zeitpunkt mühselig reaktiviert werden.
Der meistgehörte Satz in meiner Beratungs- und Vortragstätigkeit ist: “Das hätten wir vor zwanzig, dreissig, vierzig, fünzig Jahren hören sollen. Dann wäre alles anders verlaufen.”
Der zweithäufigste Satz lautet: “Ausser mit Ihnen kann man ja mit niemandem darüber reden.” Ich hatte schon viele Gespräche mit älteren Menschen, die sehr traurig von ihrem verkorksten Sex- und Paarleben erzählten. Hauptsächlich aufgrund der fehlenden Ermutigung und Betonung der Wichtigkeit eines sexuellen Lernwegs und fehlender Vermittlung von Wertschätzung sexueller Lust und Selbstbefriedigung. Doch es ist nie zu spät. Ich habe schon einige über Siebzigjährige auf dem Weg ihrer Lustfindung ermutigt und beraten.
Die “Therapie Selbstbefriedigung” eignet sich für alle sexuellen “Störungen”. Erektionsstörungen, zu früh Kommen, keine Lust, dranghafte Lust, keinen Orgasmus, zu wenig spüren beim Geschlechtsverkehr, zu wenig erleben beim Geschlechtsverkehr, nicht penetrieren wollen, nicht aufnehmen können (Vaginismus), Schmerzen beim Sex, Ekel vor den Geschlechtsorganen, Ekel vor den Gerüchen, Ekel vor den Flüssigkeiten, kein sexuelles Begehren. Ebenso bei sexuellen Abhängigkeiten von Porno, Prostitution, Gelegenheitssex, Fetischen und und und… Immer geht es dabei darum, einen besseren Bezug zum eigenen Körper, zu seinen Empfindungen, zu seinen Gefühlen, zu differenzierten Wahrnehmungen seiner selbst zu bekommen. Und damit darum, die Angst und den Stress in Bezug auf Schmerz, Versagen und Einsamkeit zu überwinden und Sexualität neu zu entwickeln.
Die Therapie Selbstbefriedigung ist ebenso hilfreich, um das eigene Sexleben immer wieder neu zu entdecken. Denn Sexualität verändert sich ein Leben lang. Der Körper verändert sich ein Leben lang. Die Paarbeziehung verändert sich ein Leben lang. Plötzlich muss oder will man etwas Neues lernen, weil das Alte vielleicht nicht mehr zufriedenstellend funktioniert. Und oft lernen wir am besten erst einmal nur mit uns allein, bis wir uns wieder sicher fühlen, um es wieder in die Paarsexualität einbringen zu können.
Deshalb - seid lieb und verständnisvoll zu Eurem Penis, Eurer Vulva und Vagina! Nehmt sie ernst. Lehrt sie Erotik. Erlernt gemeinsam mit ihnen erotische Fähigkeiten. Beginnt, Euer Sexleben genussvoll zu gestalten. Lasst Euch Zeit dabei. Seid weder auf die Penetration noch auf den Orgasmus fixiert. Sex ist noch viel, viel mehr als das. Lernt, den Weg zum Orgasmus ebenso zu geniessen, wie den Orgasmus selbst! Der Schlüssel ist - wie bei allen anderen Fähigkeiten - üben, üben, üben.
Und so geht’s!
Buchtipps zur Selbststimulation von Mann und FrauALLTAGSLUST von Veronika Schmidt (“Was Sex schön macht” S. 134-218)
SINNLICHE INTIMITÄT von Susanne-Sitari Rescio
Sex ist gesund - auch Solosex:
Menschen sind sexuelle Wesen. Die Sexualorgane erfüllen einen ureigenen Zweck, stellen etwa die gesunde Funktionalität der Körper-Hirn-Einheit sicher. Erlebte Lust, entweder in der Selbstliebe oder in einer Paarbeziehung, setzt einen Cocktail aus Hormonen und anderen Botenstoffen frei, der nicht nur für Lusterleben und Liebesbindung sorgt, sondern auch körperliches und emotionales Wohlbefinden und ein starkes Selbstbewusstsein bewirkt. Ein Orgasmus erhöht den Grundumsatz des normalen Hormoncocktails im Körper um den Faktor 1000. Die Wirkung hält bis 48 Stunden an.
Wenn der Sex mindestens zwanzig Minuten dauert, wird die Produktion des Botenstoffes Dopamin angeregt. Dopamin bewirkt einen intensiven und anhaltenden Stressabbau. Auch die Ausschüttung von Endorphinen nimmt mit der Sex-Dauer zu. Die opiumähnliche Substanz führt zu einem Glücksgefühl und lässt Schmerzen vergessen, besonders Kopf- und Gelenkschmerzen.
Sex verbessert die Prostata-Gesundheit. Samenflüssigkeit wird zu etwa dreißig Prozent in der Prostata erzeugt. Beim Orgasmus zieht sich die Wandmuskulatur der Prostata zusammen und die Samenflüssigkeit wird in die Harnröhre gepumpt. Leidet der Mann an einer Entzündung der Prostata, fördert jede Ejakulation das Ausschwemmen infektiöser Keime aus den unteren Harn- und Spermawegen.
Sex kann den Zyklus regulieren. Wer einen unregelmäßigen Zyklus hat, sollte mindestens einmal pro Woche Sex haben. Außerdem bemerken viele Frauen, dass sie weniger Krämpfe haben, wenn sie während ihrer Periode masturbieren.
Sex ist ein Jungbrunnen. Beim Sex wird Somatropin, ein Wachstumshormon aus der Hypophyse (einer Hormondrüse) ausgeschüttet. Das macht die Haut elastischer und lässt einen jünger aussehen.
Sex stärkt die Abwehrkräfte. Frauen, die mehr Sex haben, haben mehr Antikörper im Blut – und somit ein stärkeres Immunsystem.
Der Gesundheit zuliebe sollte man sich häufig küssen. Küssen regt die Speichelproduktion für längere Zeit an. Speichel ist reich an körpereigenen Antikörpern, welche viele Krankheitserreger bekämpfen. Speichelfluss führt außerdem zu schöneren Zähnen. Auch Samenflüssigkeit macht die Zähne schön, denn sie enthält Zink und Calcium. Beides beugt Karies vor.
Sex macht intelligent. Grund dafür ist, dass wir uns dabei entspannen und das Gehirn mehr Nervenzellen produzieren kann.
Sex ist ein Schlafmittel. Orgasmen senken das Stresshormon Cortisol und steigern die Östrogenwerte, was uns nach dem Sex in einen tiefen Schlaf fallen lässt.
aus ALLTAGSLUST Seite 132
"JOY OF SEX" - PODCAST LADIES LOUNGE ICF KARLSRUHE
SO GEHT GUTER SEX - AUCH FÜR MÄNNER GUT ZU HÖREN
Seminar vom 08.11.2019
Eine echte, ehrliche Auseinandersetzung mit Fragestellung zur Sexualität, denen die Sexologin und Autorin Veronika Schmidt beispielhaft "unverschämt" und mit wohltuender Offenheit begegnet.
IST SELBSTBEFRIEDIGUNG WIRKLICH OK?
Hallo Veronika
Vielen Dank für deinen Blog! Ich lese ihn mit sehr viel Interesse und habe dadurch schon viele Anregungen bekommen, die ich sehr hilfreich fand. Ich komme aus einem pietistischen Hintergrund, in dem jeglicher Sex ausserhalb der Ehe verteufelt wurde. Mit diesem schlechten Gewissen habe ich leider bis heute zu kämpfen.
Nun habe ich ein paar Fragen an Dich: Ich bin fast dreissig und Single und arbeite im Ausland “in der Mission". Da sich der Sexualtrieb ja nicht so einfach abschalten lässt, bin ich sehr lange sehr unbarmherzig mit dem Thema Sexualität umgegangen. Ich befriedigte mich oft selbst (meistens ohne Pornos, aber gelegentlich mit Bilder von Bekannten auf Facebook). Mein Ziel war, Hauptsache schnell heiraten, um dieses Thema zu "lösen" (war keine gute Idee und hat auch nicht geklappt). Dann kam mein Ruf “in die Mission".
Irgendwann hörte ich zu Selbstbefriedigung vom Begriff “Selbsterfahrung" und merke, dass es mir damit nun besser geht. Allerdings bleibt das schlechte Gewissen. Bei der Selbsterfahrung kommen immer wieder ganz kurz Bilder von Bekannten und anderen nackten Frauen. Dafür fühle ich mich dann hinterher schuldig. Auch sonst frage ich mich, ob das tatsächlich alles so richtig ist, weil man ja in der Bibel nichts darüber findet.
Ich frage mich, ob Selbstbefriedigung nicht doch Unzucht ist und ob ich damit vor Gott in Ungnade falle. In 1. Korinther 7.9 steht: “Wenn sie (Verwitwete und Singles) sich aber nicht enthalten können, sollen sie heiraten; denn es ist besser, zu heiraten, als in Begierde zu brennen.” Kann man daraus schließen, dass Selbstbefriedigung dieses "Brennen" ist? Und ist dieser Vers nicht auch ein klarer Hinweis darauf, dass man mit Sex bis zur Ehe warten sollte?
Liebe Grüße, Felix, 30 Jahre
Lieber Felix
Generationenlang hat man wohl genau das gedacht und behauptet. Dass mit dem Brennen oder Glühen in 1. Kor. 7.9 die Selbstbefriedigung gemeint ist, und natürlich nicht nur diese, sondern jegliches sexuelle Verlangen. Deshalb standen selbstverständlich sämtliche sexuellen Bedürfnisse unter Generalverdacht, wenn man nicht verheiratet war. Doch wie du bestimmt an verschiedenen Stellen in meinem Blog gelesen hast, gehören sexuelle Bedürfnisse zu uns Menschen dazu, sind ein Teil unseres Selbst. Die Frage ist nur, wie wir damit umgehen.
Ein wirklich schönes Büchlein zu diesem Thema ist «Mystik und Eros» von Anselm Grün und Gerhard Riedl. In der Beschreibung zum Buch steht: «Religion und Sexualität stehen für viele Menschen im Widerspruch. Die Autoren, ein Familienvater und ein Benediktinermönch wollen Mystik und Eros wieder miteinander versöhnen. Sie treten für eine Spiritualität ein, die die Lust am Leben fördert, und geben Antworten auf die Frage nach einer menschlich gelebten Sexualität.»
Mit den Worten Begierde oder Verlangen ist nicht ein gesundes Bedürfnis gemeint, sondern ein (über)starkes Sehnen - begieriges Sehnen und Verlangen, welches «alles Übrige erstickt». Das heisst, man wird vom Verlangen beherrscht und getrieben und lenkt das Bedürfnis nicht selbst. Da wir in der Bibel grundsätzlich nichts zu Selbstbefriedigung finden, ist es meiner Meinung nach nicht statthaft, aus dieser oder auch ähnlicher Bibelstellen (z.B. alle Unzucht-Stellen) eine Ächtung der Selbstbefriedigung abzuleiten. Aber wie alles im Leben können wir auch Selbstbefriedigung in guter oder schädlicher Weise ausleben. Wir finden verschiedene Stellen in der Bibel, die uns ermahnen, uns nicht von etwas beherrschen zu lassen, weder von Angst noch von sonst was. Eine Stelle in Sirach 6.2 (Apokryphen) drückt gut aus, was das Problem sein kann: «Lass dich nicht von deinen Wünschen beherrschen; sie könnten deine ganze Kraft aufzehren.» Doch andererseits ruft Paulus zu Gelassenheit und Entkrampfung auf: «Alles ist mir erlaubt, aber nicht alles ist nützlich. Alles ist mir erlaubt, aber ich will mich von nichts beherrschen lassen.» 1. Kor. 6.12
Manchmal schmunzle ich über Paulus Rat, doch zu heiraten, wenn das Verlangen übermächtig ist. Offenbar war damals weder eine Frage, ob jemand Heiratswilliges zu finden sei, noch, dass Paare, wenn verheiratet, regelmässig Sex haben. Beides ist heute leider nicht zwingend gegeben. Seltsamerweise haben Menschen auch in Beziehungen oftmals keinen Sex oder sehr selten. Ein Mann in der Beratung meinte mal frustriert, nun hätte er mit dem Sex gewartet bis zur Ehe, in der Annahme, wenn er verheiratet sei, dürfe er dann Sex haben. Doch nun dürfe er immer noch nicht. Vor allem die christliche Sprachlosigkeit zum Thema Sex verhindert einen guten sexuellen Lernweg, der nötig wäre, damit sowohl Frauen wie Männer einen guten Zugang zu ihrem Körper und ihrer Sexualität entwickeln können und somit auch die Freude am Sex. Denn diese ist die Voraussetzung dafür, dass man Sex immer wieder und regelmässig haben möchte.
Also möchte ich Dich ermutigen, Deinen Körper zu geniessen und auch zu Deiner Sexualität und Deinen Sexualorganen eine gute, freudvolle Beziehung aufzubauen, ohne von der Begierde getrieben zu sein. Doch nein - ich finde es keine gute Idee, wenn Du Bekannte oder Facebook-Freundinnen als Wichsvorlage benützt. Ich rate Dir, erstmal überhaupt keine Bilder zu verwenden und auch nicht mechanisch mit der Hand drauflos zu rubbeln. Sondern konzentriere Dich auf die (feinen) Wahrnehmungen Deines Körpers. Darauf, was Du spürst - am ganzen Körper, was der Penis spürt, was der Penis tun möchte. Bewege Deinen Beckenboden, bewege den Penis mit dem Beckenboden, bewege den Penis in die stillhaltende Hand hinein, konzentriere Dich auf die Berührungen, Erfahrungen, Wahrnehmungen, auf die Erregung, die Bewegungen, den Atem, das Mitgehen mit dem ganzen Körper, die Erregungssteigerung, auf das Zurückhalten der Erregung, das erneute Ansteigen, das Entladen und das Nachspüren in der Entspannung. Alles ganz bewusst. Falls Du Fantasien miteinbeziehst, fokussiere auf Dich selbst und Deinen Körper, darauf, dich als sexuell begehrenden Mann zu sehen. Mehr findest Du in meinem Erwachsenen-Aufklärungsbuch LIEBESLUST, welches auch für Singles gut geeignet ist.
Das ist übrigens der hilfreichste Weg, um Abhängigkeit von Pornografie zu überwinden. Indem man in die Wahrnehmung des Körpers geht und die unerwünschten Bilder sein lässt. Denn Gedanken und Fantasien können gesteuert werden, man ist ihnen nicht einfach ausgeliefert. Je weniger die entsprechenden Gedankengänge und Synapsen im Hirn bedient werden, desto eher verschwinden sie von ganz allein, weil sie (im Hirn) nicht mehr benützt, diese Pfade nicht mehr begangen und ersetzt werden. Indem die Bilder durch Körpererfahrungen ausgetauscht werden und dadurch neue (gesündere) Bilder entstehen können.
Zur «Sex-vor-der-Ehe-Frage» findest Du ganz viel auf dem Blog. Hier der wichtigste Beitrag: Sexualethik und die Aufwertung der Verlobung
Herzliche Grüsse - Veronika
CHRINGLES WITH BENEFITS - ODER "ICH WILL SEX!"
Ganz so explizit sagte sie es nicht. Aber das Anliegen der etwa 30-jährigen Frau, welche nach dem Workshop auf mich zukam, war eindeutig. Sie wollte mir das Eingeständnis abringen, jeder Mensch habe ein Recht auf Sex, auch der Single-Mensch. Also der Christ-Single-Mensch, der Chringle. Sie meinte offensichtlich sich selbst.
Doch nein, dieses Recht gibt es nicht. Auf alle Fälle nicht auf Sex mit einem anderen Menschen. Mit sich selbst – das ist eine andere Sache. Das mag gemein sein und ungerecht, aber so ist es. Das Leben ist oft ungerecht. Damit müssen wir klarkommen. Die Annahme, Sex sei ein „Menschenrecht“, ist die Ursache vielen Übels auf der ganzen Welt. Überall da, wo sich Sex einfach genommen, wo er gekauft und erzwungen wird. Das Gesetz kennt keinen Anspruch auf Sex. Sex kann nicht eingefordert werden, nicht mal mehr in der Ehe – und das ist gut so. Und da Sex kein Menschenrecht ist, muss es theoretisch zumutbar sein, auf Sex zu verzichten. Man stirbt nicht, wenn man keinen Sex hat. Es stirbt höchstens eine Beziehung, die keinen Sex mehr will.
Doch was ist, wenn man sich freiwillig und in gegenseitiger Übereinstimmung zu Sex verabredet? Ja, ich habe davon gehört, von den „Chringles with Benefits“, in Anlehnung an das Phänomen „Friendship with Benefits“. Gemeint sind Freunde, in diesem Fall christliche, die gelegentlich Sex miteinander haben, ohne in einer Beziehung zu sein. Interessanterweise wollen Menschen von mir immer wieder wissen, ob sie etwas Bestimmtes tun dürfen oder nicht. Es geht ihnen um die Erlaubnis oder das Verbot. Die erwähnte Frau war fast ein wenig ungehalten, als ich mich weigerte, weder das eine noch das andere zu geben. Ich verwies sie mehrmals auf ihre Eigenverantwortung. Auf die Verantwortung sich selbst, dem Sexpartner und Gott gegenüber. Es ist erstaunlich, was es auslöst, wenn man Menschen sagt: „Das musst Du selbst wissen”, „Du musst selbst entscheiden, ob Dir das gut tut, ob Du das langfristig verkraften kannst“, „Du musst Dir selbst über Deine Motive dazu klar werden” oder „hast Du selbst Gott schon mal dazu befragt?“.
Während wir auf der einen Seite noch diskutieren, ob Selbstbefriedigung ok ist oder ob Paare in einer verbindlichen Beziehung schon vor der Ehe Sex haben „dürfen“, fordern andere bereits das allgemeine Recht auf Sex, unabhängig von einer Beziehungsform. Ich kann verstehen, dass einige Gemeindeverantwortliche deshalb gerne die Grenzen eng gesteckt lassen möchten, auch wenn Menschen letztlich trotzdem tun, was sie wollen. Doch wir sollten uns als Autoritätspersonen grundsätzlich weigern, Entscheidungen und damit die Verantwortung den (erwachsenen) Menschen abzunehmen mit moralischen Einwänden. Nur dann kann gesunde Selbstverantwortung entstehen.
Die Meinung, auf irgend etwas ein Recht zu haben, ist definitiv ein Kennzeichen westlicher Wohlstandsverwahrlosung. Auswuchs davon sind gekränkte Incels, die sich aus Hass auf „Normalos“ im Internet zusammenrotten und im Extremfall Frauen töten, weil sie sich von ihnen abgelehnt fühlen. Incel steht als Abkürzung für «unfreiwillig Zölibatäre». Gemeint sind Männer, die bei Frauen keinen Erfolg haben, aber glauben, auf diesen ein Recht zu besitzen.
Eine ganz andere Qualität steckt hingegen in einem freiwilligen oder unfreiwilligen Zölibat, welchem man einen persönlichen oder auch spirituellen Sinn abgewinnt. Der Benediktinermönch Anselm Grün, einer der bekanntesten christlichen Autoren der Gegenwart, schreibt dazu in seinem Büchlein MYSTIK UND EROS: “Wenn ich meine Sexualität als Geschenk von Gott erleben, mich in sie hineinfühle und mich von ihr über mich hinausführen lasse, dann ist sie nicht mehr der zu überwindende Trieb, sondern der Trieb, der mich auf Gott hin treibt, der mich zum Leben antreibt, der mich in Gott hinein fallen lässt. Damit das geschehen kann, muss ich das tief in mir sitzende Misstrauen gegenüber meiner Sexualität aufgeben und mich mit ihr anfreunden als einem Gottesfreund. Dann ist sie keine lauernde Begierde mehr, sondern ein Drang nach Leben, nach Liebe, nach Gott. Aber die Einheit von Sexualität und Spiritualität kann ich immer nur über die Spannung zwischen diesen beiden Polen erleben. Es ist keine bleibende, sondern eine immer wieder neu aufbrechende Erfahrung, ein Gottesgeschenk, das ich nicht festhalten kann.”
Wir sind heute generell ungeübt im Umgang mit den Pflichtprogrammen des Lebens. Wir sind eine verwöhnte Gesellschaft. Die Ansprüche sind ins Uferlose gestiegen – als hätten wir ein Recht auf Glück, Sorglosigkeit und Lusterfüllung. Eine sexuelle Partnerschaft, eine Beziehung überhaupt, Freunde, Glaubensfreiheit, Gesundheit, ein Job, Geld, Kinder, Freizeit und Ferien, nichts davon ist selbstverständlich. Wir sollten nicht mit dem Schicksal hadern, sondern demütig und dankbar sein für das, was wir haben. Für die Partnerschaft, in der der andere auch mal nervt. Für die Möglichkeit, Geld für den Lebensunterhalt zu verdienen, auch wenn sie manchmal langweilig oder überfordernd ist. Für die Kinder, welche am Geduldsfaden reissen. Für die Unabhängigkeit und die Möglichkeiten des Singledaseins, auch wenn wir uns ab und zu einsam fühlen. Für das Versammlungsrecht in der Gemeinde, auch wenn uns diese in verschiedenster Hinsicht manchmal auf den Geist geht. Dann können wir an unseren Lebensumständen wachsen, mit uns selbst und unseren Kraftquellen (auch der Sexualität) in Kontakt kommen und Vertrauen in die Welt, unsere Mitmenschen und in Gott gewinnen.
Auf Hossa-Talk findet sich ein Gespräch mit einer Frau, die sich entschieden hat, ihre Sexualität jenseits der christlichen Normen auszuleben. Interessanterweise formuliert sie da, dass sie sich Sex-Dates besser nur erlaubt, wenn sie sich ganz selbstbewusst und stark fühlt. Sprich – es kann einen ganz schön aus den Schienen werfen, einfach mit jemandem Sex zu haben ohne grosse Vertrautheit und ohne Beständigkeit. Es macht etwas mit einem. Sex zu haben macht angreifbar, schutzlos. Oder aber man legt sich einen Panzer um die Seele, damit man sich nicht selbst verletzt, was letztlich unseren Wesenskern und unsere Nahbarkeit beeinträchtigen kann. „Was für ein Mensch will ich sein und was für ein Leben möchte ich leben“, diese Frage müssen wir uns stellen und für uns selbst beantworten, gerade auch, wenn es um unsere Sexualität geht.
Der ehemalige deutsche Bundespräsident Joachim Gauck hielt anfangs Jahr eine bewegende Rede zu Verantwortung. Seine Worte können wir ganz grundsätzlich auf alle Lebensfragen und Lebensbereiche anwenden. Er sagte: "Gott schuf den Menschen mit einer geheimnisvollen Gabe, die kein anderes Geschöpf hat, sondern nur er. Der Mensch kann sich selber erkennen und für sich selber und für andere Verantwortung übernehmen. Er kann das in Liebe tun, er kann es mit Mut tun, mit Ängstlichkeit – aber er ist immer gemeint als der, der diese besondere Fähigkeit besitzt, über die niemand anderes sonst auf der ganzen weiten Welt verfügt: Er kann Verantwortung übernehmen." Und er fährt fort: "Es war die Freiheit der Moderne, die den Menschen herauslöste aus dieser festen Verortung in der Gesellschaft. Es ist die moderne Gesellschaft, die uns in den Individualismus entlässt und uns zumutet, über die grundlegenden Dinge selbst zu entscheiden: Wie wir unser Leben gestalten und was unserem Leben Sinn gibt. (…) Der große Psychologe Erich Fromm und der große Philosoph und Politikwissenschaftler Karl Popper haben mehrfach darüber gesprochen, dass es verborgen unter den verschiedenen Ängsten so etwas wie eine Grundangst gibt, die die Menschen gar nicht so genau definieren können. Ein diffuses, verunsicherndes Grundgefühl: die Furcht vor der Freiheit. Eine nicht völlig von uns erkannte, uns aber immer begleitende Furcht vor dem weiten Raum der Freiheit."
Dieser Raum der Freiheit betrifft auch die Sexualität – und wir sind herausgefordert, uns in Selbstverantwortung diesen Raum zu gestalten. - Trauen wir doch den Menschen und uns selbst diese Verantwortungsübernahme zu!
Herzlich - Veronika