Ganz so explizit sagte sie es nicht. Aber das Anliegen der etwa 30-jährigen Frau, welche nach dem Workshop auf mich zukam, war eindeutig. Sie wollte mir das Eingeständnis abringen, jeder Mensch habe ein Recht auf Sex, auch der Single-Mensch. Also der Christ-Single-Mensch, der Chringle. Sie meinte offensichtlich sich selbst.
Doch nein, dieses Recht gibt es nicht. Auf alle Fälle nicht auf Sex mit einem anderen Menschen. Mit sich selbst – das ist eine andere Sache. Das mag gemein sein und ungerecht, aber so ist es. Das Leben ist oft ungerecht. Damit müssen wir klarkommen. Die Annahme, Sex sei ein „Menschenrecht“, ist die Ursache vielen Übels auf der ganzen Welt. Überall da, wo sich Sex einfach genommen, wo er gekauft und erzwungen wird. Das Gesetz kennt keinen Anspruch auf Sex. Sex kann nicht eingefordert werden, nicht mal mehr in der Ehe – und das ist gut so. Und da Sex kein Menschenrecht ist, muss es theoretisch zumutbar sein, auf Sex zu verzichten. Man stirbt nicht, wenn man keinen Sex hat. Es stirbt höchstens eine Beziehung, die keinen Sex mehr will.
Doch was ist, wenn man sich freiwillig und in gegenseitiger Übereinstimmung zu Sex verabredet? Ja, ich habe davon gehört, von den „Chringles with Benefits“, in Anlehnung an das Phänomen „Friendship with Benefits“. Gemeint sind Freunde, in diesem Fall christliche, die gelegentlich Sex miteinander haben, ohne in einer Beziehung zu sein. Interessanterweise wollen Menschen von mir immer wieder wissen, ob sie etwas Bestimmtes tun dürfen oder nicht. Es geht ihnen um die Erlaubnis oder das Verbot. Die erwähnte Frau war fast ein wenig ungehalten, als ich mich weigerte, weder das eine noch das andere zu geben. Ich verwies sie mehrmals auf ihre Eigenverantwortung. Auf die Verantwortung sich selbst, dem Sexpartner und Gott gegenüber. Es ist erstaunlich, was es auslöst, wenn man Menschen sagt: „Das musst Du selbst wissen”, „Du musst selbst entscheiden, ob Dir das gut tut, ob Du das langfristig verkraften kannst“, „Du musst Dir selbst über Deine Motive dazu klar werden” oder „hast Du selbst Gott schon mal dazu befragt?“.
Während wir auf der einen Seite noch diskutieren, ob Selbstbefriedigung ok ist oder ob Paare in einer verbindlichen Beziehung schon vor der Ehe Sex haben „dürfen“, fordern andere bereits das allgemeine Recht auf Sex, unabhängig von einer Beziehungsform. Ich kann verstehen, dass einige Gemeindeverantwortliche deshalb gerne die Grenzen eng gesteckt lassen möchten, auch wenn Menschen letztlich trotzdem tun, was sie wollen. Doch wir sollten uns als Autoritätspersonen grundsätzlich weigern, Entscheidungen und damit die Verantwortung den (erwachsenen) Menschen abzunehmen mit moralischen Einwänden. Nur dann kann gesunde Selbstverantwortung entstehen.
Die Meinung, auf irgend etwas ein Recht zu haben, ist definitiv ein Kennzeichen westlicher Wohlstandsverwahrlosung. Auswuchs davon sind gekränkte Incels, die sich aus Hass auf „Normalos“ im Internet zusammenrotten und im Extremfall Frauen töten, weil sie sich von ihnen abgelehnt fühlen. Incel steht als Abkürzung für «unfreiwillig Zölibatäre». Gemeint sind Männer, die bei Frauen keinen Erfolg haben, aber glauben, auf diesen ein Recht zu besitzen.
Eine ganz andere Qualität steckt hingegen in einem freiwilligen oder unfreiwilligen Zölibat, welchem man einen persönlichen oder auch spirituellen Sinn abgewinnt. Der Benediktinermönch Anselm Grün, einer der bekanntesten christlichen Autoren der Gegenwart, schreibt dazu in seinem Büchlein MYSTIK UND EROS: “Wenn ich meine Sexualität als Geschenk von Gott erleben, mich in sie hineinfühle und mich von ihr über mich hinausführen lasse, dann ist sie nicht mehr der zu überwindende Trieb, sondern der Trieb, der mich auf Gott hin treibt, der mich zum Leben antreibt, der mich in Gott hinein fallen lässt. Damit das geschehen kann, muss ich das tief in mir sitzende Misstrauen gegenüber meiner Sexualität aufgeben und mich mit ihr anfreunden als einem Gottesfreund. Dann ist sie keine lauernde Begierde mehr, sondern ein Drang nach Leben, nach Liebe, nach Gott. Aber die Einheit von Sexualität und Spiritualität kann ich immer nur über die Spannung zwischen diesen beiden Polen erleben. Es ist keine bleibende, sondern eine immer wieder neu aufbrechende Erfahrung, ein Gottesgeschenk, das ich nicht festhalten kann.”
Wir sind heute generell ungeübt im Umgang mit den Pflichtprogrammen des Lebens. Wir sind eine verwöhnte Gesellschaft. Die Ansprüche sind ins Uferlose gestiegen – als hätten wir ein Recht auf Glück, Sorglosigkeit und Lusterfüllung. Eine sexuelle Partnerschaft, eine Beziehung überhaupt, Freunde, Glaubensfreiheit, Gesundheit, ein Job, Geld, Kinder, Freizeit und Ferien, nichts davon ist selbstverständlich. Wir sollten nicht mit dem Schicksal hadern, sondern demütig und dankbar sein für das, was wir haben. Für die Partnerschaft, in der der andere auch mal nervt. Für die Möglichkeit, Geld für den Lebensunterhalt zu verdienen, auch wenn sie manchmal langweilig oder überfordernd ist. Für die Kinder, welche am Geduldsfaden reissen. Für die Unabhängigkeit und die Möglichkeiten des Singledaseins, auch wenn wir uns ab und zu einsam fühlen. Für das Versammlungsrecht in der Gemeinde, auch wenn uns diese in verschiedenster Hinsicht manchmal auf den Geist geht. Dann können wir an unseren Lebensumständen wachsen, mit uns selbst und unseren Kraftquellen (auch der Sexualität) in Kontakt kommen und Vertrauen in die Welt, unsere Mitmenschen und in Gott gewinnen.
Auf Hossa-Talk findet sich ein Gespräch mit einer Frau, die sich entschieden hat, ihre Sexualität jenseits der christlichen Normen auszuleben. Interessanterweise formuliert sie da, dass sie sich Sex-Dates besser nur erlaubt, wenn sie sich ganz selbstbewusst und stark fühlt. Sprich – es kann einen ganz schön aus den Schienen werfen, einfach mit jemandem Sex zu haben ohne grosse Vertrautheit und ohne Beständigkeit. Es macht etwas mit einem. Sex zu haben macht angreifbar, schutzlos. Oder aber man legt sich einen Panzer um die Seele, damit man sich nicht selbst verletzt, was letztlich unseren Wesenskern und unsere Nahbarkeit beeinträchtigen kann. „Was für ein Mensch will ich sein und was für ein Leben möchte ich leben“, diese Frage müssen wir uns stellen und für uns selbst beantworten, gerade auch, wenn es um unsere Sexualität geht.
Der ehemalige deutsche Bundespräsident Joachim Gauck hielt anfangs Jahr eine bewegende Rede zu Verantwortung. Seine Worte können wir ganz grundsätzlich auf alle Lebensfragen und Lebensbereiche anwenden. Er sagte: "Gott schuf den Menschen mit einer geheimnisvollen Gabe, die kein anderes Geschöpf hat, sondern nur er. Der Mensch kann sich selber erkennen und für sich selber und für andere Verantwortung übernehmen. Er kann das in Liebe tun, er kann es mit Mut tun, mit Ängstlichkeit – aber er ist immer gemeint als der, der diese besondere Fähigkeit besitzt, über die niemand anderes sonst auf der ganzen weiten Welt verfügt: Er kann Verantwortung übernehmen." Und er fährt fort: "Es war die Freiheit der Moderne, die den Menschen herauslöste aus dieser festen Verortung in der Gesellschaft. Es ist die moderne Gesellschaft, die uns in den Individualismus entlässt und uns zumutet, über die grundlegenden Dinge selbst zu entscheiden: Wie wir unser Leben gestalten und was unserem Leben Sinn gibt. (…) Der große Psychologe Erich Fromm und der große Philosoph und Politikwissenschaftler Karl Popper haben mehrfach darüber gesprochen, dass es verborgen unter den verschiedenen Ängsten so etwas wie eine Grundangst gibt, die die Menschen gar nicht so genau definieren können. Ein diffuses, verunsicherndes Grundgefühl: die Furcht vor der Freiheit. Eine nicht völlig von uns erkannte, uns aber immer begleitende Furcht vor dem weiten Raum der Freiheit."
Dieser Raum der Freiheit betrifft auch die Sexualität – und wir sind herausgefordert, uns in Selbstverantwortung diesen Raum zu gestalten. - Trauen wir doch den Menschen und uns selbst diese Verantwortungsübernahme zu!
Herzlich - Veronika