Liebe Veronika
Erst mal danke für Dein Buch. Ein Satz ist mir besonders hängen geblieben. Der über die Tyrannei der Intimität. Nun, ich erlebe sehr oft in unserer christlichen Gemeinde und im Bibelkreis, dass meine persönlichen Grenzen schroff übertreten werden. Dies wird immer so ausgelegt, als ob ich noch etwas zu lernen hätte. Man lässt mich zum Beispiel ungefragt wissen, ich sei zu sensibel. Weil ich keine Kinder und keinen Mann habe, wäre ich deshalb konfliktscheu. Weil ich keine Berührungen von Fremden mag, wäre ich lieblos und mit Komplexen behaftet.
Aber ich finde mich eigentlich ganz normal und bin soweit zufrieden mit mir. Natürlich muss ich noch an vielem arbeiten. Aber ich leide nicht so sehr darunter, dass ich keine Kinder und keinen Mann habe, wie andere mir das zuschreiben möchten. Ich beginne erst zu leiden, wenn man mir sagt: „Ich wünsche Dir wirklich einen Partner“. Erst dann komme ich mir unvollkommen vor. Jedenfalls führt mich das in die Isolation und Ausgrenzung, weil ich mich zurückziehe, wenn Gläubige mir ständig mit unschönen Bemerkungen begegnen, als ob mit mir etwas nicht in Ordnung sei.
Ich möchte in Würde leben, meinen Freiraum, meine Persönlichkeit geniessen und nicht ständig mit Übertretungen konfrontiert werden. Ich möchte nicht rundheraus gefragt werden: „Du mit Deinen 47 Jahren, hattest Du schon Sex? Falls ja, wäre das ja nun eine grobe Sünde, falls nein, bekomme ich zu hören: „Oje, du hast nie ein Gefühlsleben entwickelt und Dir fehlt die Erfahrung von Sex - wie traurig, arm, ungesund...“
Heute kam mir der Gedanke, dass diese Übertretungen genau von den Leuten kommen, die selber verletzt worden sind oder ein Defizit haben - Nun meine Frage: Könnte das sein? Sollte ich mich weniger angegriffen fühlen?
Maria, 47 Jahre
Liebe Maria
Ja, die fromme Industrie! Da haben wir ein paar Eigenheiten produziert, die nicht so richtig fröhlich machen. Da sind Dinge entstanden, die man gerne dem Kontrollwahn zuschreiben darf und die nicht der Bibel oder dem Heiligen Geist entsprechen. Was Du da beschreibst, ist leider kein Einzelfall. Es sind unschöne, grenzverletzende Gewohnheiten. Wir meinen, einen Anspruch darauf zu haben, dass andere uns ihre Seele bis in den verborgensten Winkel offenbaren. Oder wir offenbaren unser Innerstes anderen, ohne sie zu fragen, ob ihnen das angenehm ist. Das geht soweit, dass Männer vor versammelter Gemeinde Selbstbefriedigung oder Pornokonsum bekennen. Mit dieser Tyrannei der Intimität verlieren wir jede Distanz und überschreiten alle Grenzen. Im schlimmsten Fall entsteht daraus emotionaler und geistlicher Missbrauch. Nähe braucht immer auch Distanz und Grenzen, sonst wird sie unerträglich. Das gilt für jede Form von Beziehung, für Freundschaften genauso wie für die Paarbeziehung. Oft wird es in einer Beziehung zu eng und kommt es deswegen zu Konflikten, weil wir nicht gelernt haben, Übergriffe abzuwehren. Wir haben in der Gemeinde keinerlei Kultur etabliert, die uns ermöglicht und erlaubt, uns abzugrenzen gegen unerwünschte Unverschämtheiten. Niemand lehrt uns, dass wir in einem solchen Fall sagen dürfen: „Ich wüsste nicht, was Dich das angeht!“ – „Ich suche mir die Menschen selbst aus, mit denen ich diese Themen besprechen möchte!“ – „Ich möchte Deine guten Ratschläge nicht, vielen Dank!“
Vor allem wenn es um Sex geht, besteht eine unausgesprochene aber teils auch geforderte Rechenschaftspflicht. Ein ganzes Segment Bücher widmet sich dem. Man (vor allem Mann) schliesst Verträge, Bündnisse mit Mentoren, Gebetspartnern, seinen Augen, seinen Händen und was auch immer, um so besser auf dem rechten Pfad zu bleiben. Sobald ein junges Pärchen sich findet, wird es angesprochen, ob sie nicht jemanden bräuchten, der ihnen helfen würde, rein zu bleiben und der dann das Recht hätte, danach zu fragen, wie weit die Beiden gehen würden, welche Regeln sie einzuhalten gedenken usw. Für mich ist das nichts anderes als Voyeurismus.
Nun vermutest Du solche Grenzübertretungen vor allem von verletzten Menschen. Im weitesten Sinne hast Du recht. Ich würde es anders ausdrücken und sagen, dass dies vor allem Menschen tun, die mit sich selbst nicht im Reinen sind. Die ihre eigenen inneren Konflikte auf die anderen übertragen. Die damit ihre eigenen sexuellen Nöte bekämpfen. Oder auch solche, die den eigenen sexuellen Richtlinien nicht genügen konnten und nun daraus ein Sendungsbewusstsein entwickeln, andere vor denselben Fehlern bewahren zu wollen. Oder es sind schlicht unglaublich selbstgerechte Menschen, die so aber auch ein gewisses Defizit an Selbstvertrauen offenbaren, sonst hätten sie es nicht nötig. Und dann sind da noch die Arglosen, die glauben, dass sie damit anderen einen Dienst erweisen, weil ihnen das so beigebracht wurde.
Egal mit welchen Problemen Menschen in meine Beratung kommen, am Ende läuft es darauf hinaus, dass sie lernen müssen, Grenzen zu setzen – und im Gegenzug – loszulassen. Sprich, wer beides kann, erscheint vermutlich nie in meiner Praxis, egal ob es um die Gemeinde, Partnerschaft, Sexualität, Kindererziehung, Freundschaften oder um das Berufsleben geht. Ein hilfreiches wunderbares Kleinod zu diesem Thema ist das Büchlein von Anselm Grün GRENZEN SETZEN - GRENZEN ACHTEN.
Mit diesen Ausführungen will ich auf gar keinen Fall sagen, dass wir nicht Menschen brauchen, mit denen wir unser Innerstes teilen. Die brauchen wir sogar ganz dringend. Mit und an diesen Menschen wachsen wir und finden zu unserem wahren ich. Solche Beziehungen entstehen nicht durch einfordern von Rechenschaft, sondern durch Vertrauen, das erworben sein will. Vertrauen kann nie und nimmer eingefordert werden. Vertrauen wird geschenkt. Vertrauen schenken wir dann, wenn wir uns sicher, verstanden und aufgehoben fühlen, bei Menschen, die uns gut tun.
Ja, liebe Maria, Du solltest Dich weniger angegriffen fühlen, indem Du Angriffe, ob es nun welche sind oder Du sie nur als solche empfindest, einfach ignorierst und Dich innerlich distanzierst. Wenn Du schlagfertig genug bist, dann grenze Dich auch verbal ab. Oder sonst einige Zeit später, indem Du sagst: „Weißt Du was, das damals hat mich verletzt und ich will das von Dir nicht mehr hören.“ - Jede Grenzsetzung wird in Dir neue Freiheit bewirken. Was andere dazu meinen? Ich behaupte, sie werden Dich mehr respektieren. Und wenn nicht - who cares? Denn ist Dein Ruf erst ruiniert, lebt sichs gänzlich ungeniert!
In diesem Sinne herzliche ungenierte Grüsse - Veronika