AUSGEHEND VON #MEETOO ENTWICKELTE SICH EINE WELTWEITE DEBATTE UM SEXUELLE GEWALT, DIE SO SCHNELL NICHT WIEDER VERSCHWINDEN DÜRFTE. AUCH FÜR UNSERE CHRISTLICHE LEBENSWELT IST DAS EIN THEMA, MIT DEM WIR UNS BESCHÄFTIGEN MÜSSEN, STELLT DIE SCHWEIZER SEXUALTHERAPEUTIN VERONIKA SCHMIDT FEST.
„Diese Herren nerven“, sagte die höchste christliche Politikerin der Schweiz angesichts von Sexismusvorwürfen im Bundesparlament. Der hauptsächlich im Kreuzfeuer stehende Parlamentarier gehörte zu ihrer Partei. Der Familienvater war einst im Komitee der „Sexkoffer-Initiative“, die den Sexualunterricht im Kindergarten und der Primarschule ablehnte. Einmal mehr – je lauter die Moralapostel, desto mehr Dreck am Stecken.
Lange nicht alle Herren nerven. Viele Männer sind in den vergangenen Jahren sensibel auf Diskriminierung geworden und haben längst erkannt, dass Mann und Frau ihr Potenzial nur gemeinsam sinnvoll und für die Menschheit gewinnbringend ausschöpfen können. Macht hat zwar kein Geschlecht, auch Frauen nerven, aber in unserer Gesellschaft haben mehr Männer Macht, die sie missbrauchen können. Und, Hand aufs Herz: Ist in der christlichen Lebenswelt den Männern Macht nicht per se gegeben? Ist die jahrhundertelange Ungleichstellung der Frau nicht sogar Sexismus pur? So selbstverständlich, dass es kaum einem auffallen will? Wird die Diskriminierung der Frau als gottgegeben angesehen, nicht nur von Männern? Im Buch „Alltagslust“ schreibe ich: „Nicht nur unerwünschte Berührungen und anzügliche Sprüche sind Sexismus, sondern ebenso die gezielte Benachteiligung eines Geschlechts, auch, indem Bibelstellen wahllos ohne kulturellen und zeitgeschichtlichen Zusammenhang und ohne den Kontext der Bibel selbst zitiert werden.“
Sexismus in der Kirche
Wir denken vielleicht, sexuelle Belästigung komme in der Kirche nicht vor. Doch die kirchliche Lebenswelt spiegelt die Gesellschaft wieder. Sexismus ist nicht gleich sexueller Missbrauch, aber Sexismus begünstigt sexuellen Missbrauch. Er ist eindeutig Nährboden jeglicher sexuellen Ausbeutung, gedeckt durch die Kultur des Schweigens. Religiöser Sexismus begünstigt zudem geistlichen Missbrauch. Eine Frau erzählte in einer Seelsorgewoche, sie sei missbraucht worden und erhalte ab und zu Avancen von Männern, obwohl diese wüssten, dass sie verheiratet sei. Darauf sagte einer der Seelsorger, sie sei eben eine Frau mit einer erotischen Ausstrahlung. Sprich – sie sei selbst schuld. Mit diesem Vorwurf ist beinahe jede belästigte und missbrauchte Frau konfrontiert. Auch die junge Frau, die anschließend an eine Ehevorbereitung in einem Einzelgespräch vom Pastor zu sexuellen Handlungen genötigt wurde. Er wusste von ihrem vorehelichen Sex.
Die Philosophieprofessorin Kate Manne sagt: „Sexismus ist diejenige Abteilung des Patriarchats, die für die Rechtfertigung der sozialen Ordnung verantwortlich ist: Es handelt sich um eine Ideologie, die Männer und Frauen aufgrund der ihrem Geschlecht zugesprochenen Fähigkeiten diskriminiert, obwohl die wissenschaftlich nicht belegt sind. (…) Sexismus ist eine Theorie – Frauenfeindlichkeit schwingt die Keule.“*
Eine typische 90er-Jahre Frauenkeule kenne ich aus der Beratung – und wurde mir selbst um die Ohren gehauen: Frauen, die sich autoritärem männlichen Gehabe entgegenstellten und sich wehrten, nicht nur für sich selbst, sondern auch für andere, wurden (zum Teil sogar öffentlich) bezichtigt, vom Geist der Isebel besessen zu sein.
Latenter Sexismus in der christlichen Lebenswelt
Latenter Sexismus in der christlichen Lebenswelt bedeutet oft einfach, du wirst ignoriert, weil du eine Frau bist. Du wirst für eine wichtige Aufgabe nicht gefragt, auch, weil du Konkurrentin werden könntest. Dein Name wird trotz deiner Verdienste nicht erwähnt, aus Versehen. Du hörst blöde Kommentare, wirst gönnerhaft behandelt und unnötig belehrt. Oh ja, und auch gläubige Männer machen Sprüche zu Figur, Dekolleté und Beinen. Die Kleidung, nur der Frauen, ist ein Thema. In meiner Jugendgruppenzeit wurden wir Mädchen in wirklich hässliche Diskussion darüber verwickelt. Das war Ende der 70er-Jahre, und die uns kritisierenden Herren trugen hautenge weiße Jeans, unter denen sich ihr Penis deutlich abzeichnete.
Einst als Jungscharleiterin konfrontierte mich ein Ausbildner ungefragt mit einem sexuellen Geständnis. Er wollte wissen, was ich dazu meine, dass er sein kleines Patenkind-Mädchen jeweils mit Zunge küsse, ob das wohl okay sei. Damals realisierte ich erstmals die christliche Doppelmoral, mit der ich schlicht nicht umzugehen wusste. Was ich heute darüber denke? Dieser Mann wusste ganz genau, dass er Unrecht tat. Männer welche (verbal) belästigen, angrapschen, vergewaltigen und ihre Frauen zu Dingen zwingen, die diese nicht wollen, wissen um das Unrecht. Aber sie denken, sie hätten ein Recht darauf.
Sexismus überwinden
Wir leben in einer Welt, in der mächtige (geistliche) Männer ihre Position ausnützen. Das wollen heute viele Frauen zu Recht nicht mehr hinnehmen und brechen ihr Schweigen. Ausgehend von #metoo entwickelte sich eine weltweite Debatte um sexuelle Gewalt, die so schnell nicht wieder verschwinden dürfte. Sie wird auch die christliche Lebenswelt erfassen. Noch zu oft werden Frauen, welche sexuellen Missbrauch in der christlichen Lebenswelt anprangern, als psychische Wracks diffamiert. Zu oft werden Familien vom Gemeindevorstand zum Schweigen genötigt und von Anzeigen abgehalten, wenn diese den Missbrauch ihrer Kinder öffentlich machen wollen. Noch wird der Ruf der Gemeinde oder der Mission über das Einzelschicksal gestellt. Noch werden skrupellos staatliche Gesetze unter dem Vorwand und Vorzug der Beichte umgangen. Je geschlossener und abgeschotteter eine Gemeinschaft ist, desto grösser ist die Gefahr von Sexismus, Missbrauch und Schweigen. Diese Gefahr richtet sich ganz klar gegen Frauen und Kinder.
Die religiöse Diskriminierung der Frau kann geschichtlich hergeleitet werden. Ein paar „Anekdoten“ der Kirchenväter gefällig? Tertullian (160-225): „Die Frau ist eine betörende Verführerin und hat die Schuld am Leiden der Menschheit.“ Epiphanius (315-403): „Die Frau ist leicht zu verführen und hat keinen großen Verstand und ist schwach.“ Augustinus (354-430): „Das Weib ist ein minderwertiges Wesen, das von Gott nicht nach seinem Ebenbilde geschaffen wurde. Es entspricht der natürlichen Ordnung, dass die Frauen den Männern dienen.“ Thomas von Aquin (1225-1275) („Die Frau ist eine minderwertige Fehlkonstruktion“) führte das Entstehen der Frau auf eine Schwäche des Samens zurück.
Noch immer wird in freikirchlichen Kreisen theologisch ausgebildeten Frauen die Ordination verweigert, wird darüber gestritten, ob Frauen leiten, „lehren“ oder nur „unterrichten“ dürfen. Mit der Bibel Argumentierende beschwören zwar die Schöpfung durch Gott, nehmen sich aber nicht die Mühe, von der Schöpfung selbst zu lernen. Denn sonst wüssten sie, dass unsere Genitalien bis zur 7. Schwangerschaftswoche alle gleich sind, nämlich weiblich(!). In der 8. Woche beginnt im Körper von Embryos mit männlicher Anlage die Produktion von männlichen Hormonen. Die winzigen Schamlippen schliessen sich und formen sich zur sogenannten Penisnaht, die von der Vorhaut über das Vorhautbändchen und den Hodensack bis zum Damm verläuft. Selbst wenn ab der 12. Schwangerschaftswoche die unterschiedlichen Genitalien ersichtlich werden, setzen sie sich doch aus denselben Bestandteilen zusammen, nichts davon geht verloren. Die Klitoris der Frau ist ein Penis. Aus der Schöpfung selbst ist kein Vorrang des Männlichen abzuleiten, im Gegenteil. Die Bibel selbst bestätigt, indem sie Paulus sagen lässt: Da ist nicht Jude noch Grieche, da ist nicht Sklave noch Freier, da ist nicht Mann und Frau; denn ihr alle seid einer in Christus Jesus. (Galater 3,28)
Nicht nur in der Gesellschaft, auch innerhalb der Kirche beenden wir sexuelle Gewalt nur, wenn auf Gleichheit bedachte Rollen- und Familienmodelle zur Normalität werden. Denn patriarchale Strukturen bildeten den Nährboden für Sexismus und Gewalt. Deshalb ist es wichtig, dass auch Frauen innerhalb christlicher Gemeinschaften über negative Erfahrungen nicht mehr schweigen. Und es ist ebenso wichtig, dass Frauen lernen, Einfluss zu wollen, klare Ansagen zu machen und Grenzen zu setzen. Dass sie nicht erwarten, sondern handeln. Dass sie sich selbst und laut sagen: „Ich werde reden – ich werde gehört werden!!!“
Veronika Schmidt arbeitet als Paar-, Familien- und Sexualberaterin und lebt mit ihrer Familie in CH-Schaffhausen. Sie ist Autorin der beiden Bücher „Liebeslust – Unverschämt und echt genießen“ und „Alltagslust – Ganz entspannt zum guten Sex“ (jeweils SCM).
* http://www.zeit.de/kultur/2017-11/sexismus-frauenfeinlichkeit-misogynie-kate-manne