Liebe Clara
Du stellst Fragen! Hättest Du mir Deine Mailadresse hinterlassen, ich hätte mich wohl darum gedrückt, Dir öffentlich zu antworten. Denn ich höre im Geiste schon wieder die Empörung durch den Äther rauschen. Ich glaube, ich muss die Fragebogen-Einstellungen ändern… :-)
Als Antwort stellen sich hier zwei Fragen. Die eine ist, soll mein Partner über jedes kleinste Detail von mir Bescheid wissen, oder gibt es auch innerhalb der Ehe eine gewisse Privatsphäre, die nur mir gehört – gewisse Gedanken, Wünsche, Fantasien, Gefühle, Handlungen? Lassen wir uns gegenseitig einen gewissen Spielraum? Die andere Frage ist, wie stehe ich und mein Partner zu Selbstbefriedigung im Allgemeinen und in der Ehe? Heisse Fragen!
Nun lebst Du mit einem Mann zusammen, der Selbstbefriedigung schlecht findet. Du hast zwei Möglichkeiten. Entweder Du lebst mit Deinem kleinen Geheimnis oder Du mutest Eurer Beziehung eine Auseinandersetzung zu zum Thema Selbstbefriedigung. Ich kann für Dich nicht abschätzen, wie gross im zweiten Fall die Erschütterung Eurer Beziehung sein wird. Vor einiger Zeit verfasste ich einen BLOG zu Tyrannei der Intimität. Dabei ging es zwar nicht um die Ehe, aber im Grundsatz lässt sich das Geschriebene auf die Beziehung übertragen. Jede*r Partner*in besitzt ein Recht auf freie Gedanken, Fantasien und hat Handlungsspielräume, seinem Individuum entsprechend. Man kann diese mitteilen, muss sie aber nicht. Im Gegenzug hat man auch das Recht zu sagen, „ich will das gar nicht wissen.“ Die Tyrannei kann zwei Wege gehen: in den anderen, in seinen Kopf, sein Herz eindringen wollen oder aber den anderen mit den eigenen Gefühlen, Gedanken, Wünschen zu bedrängen. Beides ist nicht richtig, denn die Grundsätze von Liebe sind Freiwilligkeit, Achtung gegenüber der anderen Person und Respekt für deren Autonomie.
In einer Ehe muss man damit leben lernen, dass der/die eine etwas gut findet und es deshalb macht, auch wenn die/der andere das dämlich findet. Oder der/die andere macht etwas explizit nicht, obwohl die/der andere das gut finden würde. Wenn diese Freiräume nicht möglich sind, absolute Symbiose gelebt werden muss, wird es sehr eng in einer Beziehung. Was meist irgendwann einen Ausbruch zur Folge hat. Natürlich sollen wir als Paar gemeinsame Werte und Normen formulieren und leben und Grenzen definieren, das ist sogar alles sehr wichtig. Wir brauchen ein grundsätzliches Commitment, welches nicht dauernd in Frage gestellt werden darf.
Nun die Frage: Gilt „gewisse Freiräume“ auch für Sexualität, für Teile der persönlichen Sexualität? Gehört mein Körper, inklusive der Sexualität, nun mir oder dem anderen oder beides? Wie sind die „Besitzverhältnisse“? Da wir uns in der christlichen Lebenswelt mit diesen Fragen nicht auseinandersetzen, vieles noch nie bedacht haben, regieren Unwissen, Halbwissen, Mythen, willkürliche Regelwerke. Dazu werde ich in absehbarer Zeit einen BLOG-Beitrag schreiben.
In Eurem Fall gilt es zu überlegen und zu diskutieren, ob es eine Unterscheidung von persönlicher Solosexualität und Paarsexualität geben darf. Das ist von Paar zu Paar sehr individuell. Für die einen kommt Selbstbefriedigung in der Paarbeziehung überhaupt nicht in Frage – nicht einmal für die Selbsterfahrung. Bei Frauen meist aus Gründen der Scham und des Ekels. Männer übertragen eher ihre eigene negative Erfahrung von an Pornografie gekoppelte Selbstbefriedigung auf das Thema. Doch ich kenne viele Paare, vor allem solche mit unterschiedlichen sexuellen Bedürfnissen, die diesen Unterschied mit Solosex ausgleichen, ohne Bedenken. Dann gibt es leider auch viele Paare, die über längere Zeiträume keinen Sex mehr haben, weshalb der/die eine sich mit Solosex über Wasser hält.
Wie bei vielen Dingen ist es die Dosis, die das Gift macht. Moderate Selbstbefriedigung fördert eher die Lust auf mehr Paarsex und bringt auch mehr sexuelle Fähigkeiten hervor*. Doch am Ende der Skala finde ich mich in der Situation wieder, wo ich vor lauter Selbstbefriedigung weder Zeit für, noch Lust auf andere Dinge habe, auch nicht auf Paarsex. Wenn es keinen Spass mehr bringt, wenn's einsam macht, wenn es mehr elender Zwang als Genuss ist, wenn es sich schlicht nicht mehr gut anfühlt, dann sollte man aufhören, beziehungsweise es gar nicht so weit kommen lassen.
Jetzt schreibst Du, dass es sich gut für Dich anfühlt. Du beschreibst schön und nachvollziehbar Dein Bedürfnis dahinter. Und meiner Meinung nach ist das völlig legitim. Es bringt Dich in Deine Mitte, denn Du bist mit Haut und Haar momentan auf Beziehung und Bindung gepolt. Das Schöne an der ganzen Sache ist, Du machst bereits Erfahrung mit multiplen Orgasmen, die Du in einer weniger intensiven Zeit dann vielleicht ja auch zusammen mit Deinem Mann erleben möchtest.
Ich wünsche Dir viel göttliche Weisheit, Dein Dilemma mit gesundem Menschenverstand zu lösen. Herzlich - Veronika
*Du persönlich könntest zum Beispiel Deinen vaginalen Innenraum entdecken, die Beckenschaukel dazu einsetzen und so lernen, auch mit dem Penis in der Vagina drin mehr zu erleben, um beim Vaginalverkehr einen Orgasmus zu bekommen.