Die bedingungslose Gleichberechtigung der Geschlechter lässt sich nicht von der Geschichte der Sexualität trennen und hat mit der Geschichte der Frau zu tun. Die Frage der Sexualität ist gleichzeitig die von Freiheit und Gerechtigkeit der Geschlechter, verbunden mit Selbstverantwortung. Deshalb müssen wir über Sex reden und das grosse Bild sehen, wie Gott es gemeint haben könnte. Weckt in euch die Sehnsucht nach starken Männern und starken Frauen, vollkommen gleichgestellt. Miteinander, mit sich selbst und mit dem Schöpfer versöhnt.
"STOPP SEX" - DIE ABSCHRECKUNGSBILDER
foto by keila hötzel on unsplush
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Liebe Veronika
Ein in freikirchlichen Kreisen häufig genanntes Argument für das Warten mit dem Sex ist, dass Sexualität solch eine tiefe Bindungswirkung habe, dass Sexerfahrungen aus früheren Beziehungen spätere Beziehungen wie auch das Singleleben negativ beeinflussen. Ich habe schon mehrfach das Bild zweier aneinander klebender Knetbälle gesehen, aus denen man etwas herausreißt, wenn man sie trennen will. Gibt es für den Vergleich aus fachlicher Perspektive eine Grundlage? Und wie siehst du die Relevanz des Arguments in der Praxis?
Etwas Kontext zu meiner persönlichen Brille: Natürlich beeinflusst uns jede Beziehung. Meine letzte (und erste) Trennung war sehr hart, aber ich habe aus der Beziehung (in der wir nicht miteinander geschlafen haben) im Endeffekt auch viel positive Lernerfahrung mitgenommen, was mir in meiner aktuellen Beziehung hilft. Ich frage mich, wie anders es wäre, wenn wir Sex gehabt hätten.
Vielen Dank für alles, was Du mit Deinen Texten bewegst!
Jasmin, 25 Jahre
Liebe Jasmin
Trennungen tun tatsächlich weh. Je mehr schöne Dinge man zusammen erlebt hat, je länger die Beziehung dauerte, umso schmerzhafter kann die Trennung sein. War dabei Sex im Spiel, kann es zusätzlich qualvoll werden. Denn man hat sich mit diesem Menschen ganzheitlich verbunden und muss oder will ihn nun wieder loslassen. Natürlich sagen wir im Volksmund: “Ein Teil von mir geht mit dem anderen mit.” Doch das sagen wir eher in Bezug auf den Verlust einer liebevollen, positiven Beziehung. Trennung bedeutet immer Abschied nehmen und Loslassen von Gutem und Schwierigem. Dass man aber mit gehabtem Sex für immer beschädigt sein soll, was die besagten Bilder suggerieren, das stimmt meiner Meinung nach schlicht und einfach nicht. Ich bin da ganz Deiner Meinung, dass man durch alle Erfahrungen im Leben auch gewinnen kann. Die von Dir erwähnten Bilder wurden eigentlich konstruiert, um jungen Menschen unangenehme Konsequenzen für den Sex vor der Ehe vor Augen zu malen, ganz in der Manier von abschreckenden Bildern auf Zigaretten-Packungen (die übrigens auch nicht vom Rauchen abhalten). Sozusagen “gesagte Dinge” - einfach dahergesagt, spekulativ, nicht biblisch.
Die Bilder zu “Stopp Sex” kursieren in verschiedenen Varianten: «angebissener Apfel», «rausgeschnittene Kuchenstücke», «Klebeband, das irgendwann nicht mehr haftet» oder eben das Bild mit den «Knetbällen, die etwas rausreissen». Alle diese Bilder stimmen deshalb nicht, weil sie von der Annahme ausgehen, dass Sexualität (oder Liebe und Bindung) eine bestimmte Grösse ist, die durch den Gebrauch abnimmt oder sich abnützt. Ganz grundsätzlich widerspricht das dem biblischen Bild von Liebe, welche zunimmt, sich vervielfältigt, wenn man sie teilt. Liebe nützt sich nicht ab, Sex nützt sich nicht ab, im Gegenteil, sie werden bei richtigem und regelmässigem Gebrauch immer besser. Theoretisch.
Wenn schon, müssten wir das Bild umkehren: es bleibt etwas haften, etwas kommt dazu. Damit sind wir bei der Frage, ob das, was haften bleibt oder dazukommt, positiv oder negativ zu bewerten ist. Ob es als gute Erinnerung bleiben darf oder ob wir uns davon befreien sollten. Was entscheidend von der damit verbundenen Erfahrung abhängt, nämlich wie wir den Sex und die Person, mit der wir Sex hatten, erlebten. Aufgrund eines Zufallsfunds der Universität Alberta, Kanada vermuten Forscher sogar, dass bei ungeschütztem Sex das Erbgut des Mannes über die Spermien in den Körper der Frau wandert und sich irgendwo im Körper der Frau anlagert, denn Spermien sind lebendige Zellen. So gesehen kann es durchaus Sinn machen, sich zu überlegen, “wen” man ein Leben lang mit sich rumtragen möchte, falls dem tatsächlich so ist.
Das Schadens-Bild ist auch deshalb nicht schlüssig, weil Sex gesund ist und grundsätzlich nicht gesundheitlich bedenklich. Wobei der Umgang mit der Sexualität selbstverständlich durchaus verhängnisvoll sein kann. Sex ist gesund aufgrund des im Orgasmus ausgeschütteten Hormon-Cocktails und in Bezug auf die mit der Erregung verbundenen Funktionstüchtigkeit der Schwellkörper des Penis und der Klitoris. Die Einsatzfähigkeit der Sexualorgane (gesehen auf die Jahrzehnte hinaus) wird gerade dadurch erhalten, dass man sie “braucht” – umständehalber auch mit sich selbst. Denn die Erektionsfähigkeit des Penis wird durch Erektionen und Ejakulationen sichergestellt, beim jungen Körper sogar automatisch in der Nacht oder mit der “Morgenlatte”. Auch bei der Frau bleibt die Geschmeidigkeit der Vagina (gutes Feuchtwerden) und die Orgasmusfähigkeit besser erhalten, wenn sie regelmässig Erektionen und Orgasmen hat. Was heisst regelmässig? Zwischen 1-3 Mal pro Woche als Richtgrösse könnte man ableiten aus Studien zur sexuellen Zufriedenheit und aus der Tatsache, dass der positive Effekt der ausgeschütteten Hormone auf den Körper etwa 48 Stunden anhält. Doch selbstverständlich spielen dabei auch die persönlichen Bedürfnisse eine Rolle.
Interessanterweise wurden die “Abnützungs”-Bilder früher in Bezug auf die Selbstbefriedigung vermittelt. Man ging quasi von einem bestimmten Vorrat von Samen aus oder von einem bestimmten Guthaben an «Schüssen». Irgendwann würde dieser Vorrat oder das Guthaben dann aufgebraucht sein. Man warnte vor oder von zu viel Selbstbefriedigung, weil Mann dann irgendwann «nicht mehr könne». Ist natürlich auch biologisch gesehen völliger Quatsch, im Gegenteil. Der männliche Körper stellt immer wieder Samen her, wenn dieser «ausgeschossen» ist. Wird kein Same gebraucht, drosselt der Körper die Produktion. Den sogenannten «Samenstau» – ein weiterer Mythos – gibt es also ebenfalls nicht. Mann bekommt keine körperlichen Probleme, wenn er keinen Sex hat. Wenn, dann spielt sich seine Problematik diesbezüglich vor allem im Kopf ab. Auch bei weiblichen Orgasmen nützt sich gar nichts ab, im Gegenteil. Die im Hormoncocktail des Orgasmus enthaltenen Schmerzmittel, Glückshormone und die Kontraktionen beim Orgasmus können beispielsweise Menstruationsbeschwerden und Kopfschmerzen lindern. Was im Orgasmus ebenfalls ausgeschüttet wird, sind die Bindungshormone, was mindestens eine biologische Erklärung dafür ist, dass Sex tatsächlich enger zusammenbindet als andere gemeinsame Erlebnisse.
Was sich beim Sex allenfalls abnützt, sind unsere Motivation dafür, weil uns das Drumherum nicht gut tut oder nicht gefällt. «Nicht gut tun» können uns selbstverständlich wechselnde (Sex-)Partnerschaften oder sexuelles Verhalten, in welchem wir uns emotional nicht «aufgehoben» fühlen und unsere emotionalen Bedürfnisse nicht gestillt werden. Gemachte schlechte sexuelle Erfahrungen beeinträchtigen unser sexuelles Empfinden. Aber das hat in der Regel nichts mit «Sex vor der Ehe» tun, sondern mit der Art und Weise dieser sexuellen Erfahrungen. Es kommt also sehr darauf an, mit wem und unter welchen Umständen Sex und Liebe stattfinden. Ich möchte an dieser Stelle dennoch einmal mehr festhalten, dass wir Teenager tatsächlich dazu motivieren sollten, mit dem Sex zu warten. Das tun wir aber besser nicht mit abschreckenden Bildern, sondern mit Wissensvermittlung zu Sexualität. Denn je mehr Jugendliche über Sex, Emotionen und Beziehungen wissen, desto später haben sie zum ersten Mal Sex.
Mit dem Sex zuzuwarten, dafür gibt es nicht nur für Teenager gute Gründe. Sex setzt die Übernahme von Verantwortung gegenüber sich selbst und dem Liebespartner voraus. Verantwortungsbewusstsein entscheidet darüber, wie Sex stattfindet (Verhütung, respektvoller Umgang usw.). Wir sollten zudem grundsätzlich die Verantwortung übernehmen können für unser eigenes Leben (wirtschaftlich und/oder emotional auf eigenen Beinen stehen) und allenfalls für Leben, welches aus Sex entstehen kann. In der Beziehung selbst sollte man sich auf verschiedenen Ebenen gut Kennenlernen, auf hohem Niveau kommunizieren können, gemeinsame Interessen haben, sich gut verstehen und sich gerne nahe sein. Man sollte zudem unbedingt eine erotische Anziehung verspüren. Fehlt diese, wird es langfristig schwierig mit der Lust auf Sex. Deshalb gehört zu einer Kennenlernphase Küssen, Umarmungen, Kuscheln und Zärtlichkeiten selbstverständlich dazu. Wer von sich behauptet: «Wir haben kein Problem mit Warten!», der sollte ganz genau hinsehen, wie es denn um die körperliche Anziehung tatsächlich bestellt ist. Es kann aber auch sein, dass Sex als logischer Bestandteil einer Beziehung irgendwann einfach dazugehört. Die Verantwortung dafür sollten wir meiner Meinung nach dem (erwachsenen) Paar überlassen. Dazu hast Du bestimmt meine Blogs zum Thema schon gelesen. Wenn nicht, kannst Du das Stichwort «Sex vor der Ehe» hier eingeben: Übersicht alle Blogs.
Herzliche Grüsse - Veronika
ON THE BASIS OF SEX - LIEBESPAAR AUF AUGENHÖHE
Wir brauchen sie dringend, die Vorbilder liebevoller und gleichberechtigter Paare auf Augenhöhe. Vorbildliche selbstbestimmte Lebensentwürfe, die in ihrer Gestaltung keinem der beiden Geschlechter kulturell gewachsene Grenzen setzen. Vor allem keine Grenzen allein aufgrund des Geschlechts (engl. Sex). Eines dieser so wichtigen Vorbildpaare sind Ruth Bader Ginsburg und Martin Ginsburg. Ihre Geschichte zeigt der Film ON THE BASIS OF SEX , und der Dokumentarfilm RBG – EIN LEBEN FÜR DIE GERECHTIGKEIT. Das Gegenstück einer gleichberechtigten Ehe sehen wir in – THE WIFE – dem Roman-Drama einer Frau, die ihre eigene Karriere ihrem Mann unterordnet und deren Genie ihn zum Literatur Nobelpreisträger macht. Alle drei Filme sind äusserst sehenswert.
KLEINE DAME – GROSSES FORMAT – RBG
Ruth Bader Ginsburg, 85 Jahre alt, 1 Meter 55 klein, fachlich herausragend, intellektuell brillant, dabei zurückhaltend, selbstbeherrscht und von eisernen Arbeitsdisziplin ist eine feministische Lichtgestalt und Ikone des liberalen Amerika und seit einem Vierteljahrhundert erfolgreiche Richterin am Obersten Gerichtshof der USA. Ruth Bader Ginsburg stammt aus bescheidenen Verhältnissen, verliert früh die Mutter, wächst als Jüdin in einer antisemitischen Umgebung auf. RBG – so lautet ihr inzwischen als “Hoheitszeichen” für Autorität, Integrität und Einfluss verliehenes Kürzel – erwirbt sich mit Einsetzen der sozialen Revolution in der 1960er-Jahren ein einzigartiges Fachwissen zum Thema Ungleichbehandlung von Mann und Frau. Dank ihrer hartnäckigen Arbeit und der Unterstützung durch ihren Mann beweist sie in Aufsehen erregenden Gerichtsverfahren die gesetzliche Diskriminierung auf der Basis des Geschlechts.
Doch nicht deswegen hat ihr Neffe Daniel Stiepleman ihren Werdegang verfilmt. Ihn beeindruckte vor allem das Paarleben von Tante und Onkel. Im Interview mit Bruno Ziauddin im DAS MAGAZIN sagt er:
«Als meine Frau und ich heirateten, haben wir uns gesagt: Wir möchten als Paar so sein wie Onkel Marty und Tante Ruth. Mehr als ein halbes Jahrhundert führten sie diese unglaubliche Ehe! Gleichberechtigt, liebevoll, partnerschaftlich.»
Und als Motivation für den Film meint er: «Ich hatte das Privileg, das von Nahem mitzuerleben, Dieses Geschenk wollte ich mit anderen Menschen teilen.» Laut ihrem Neffen verfügt Tante Ruth über die Superkräfte der Überzeugungskraft. Der Heldin zur Seite steht im Film wie im wirklichen Leben ein Held: Der Ehemann Martin, selbst erfolgreicher Steueranwalt und ein exzellenter Koch. Sogar ein Kochbuch gibt es mit seinen legendären Rezepten, “Chef Supreme”. Gekocht für die Mitglieder des Obersten Gerichts. In aller Selbstverständlichkeit reihte er sich ein in die Tradition der “Ehefrauen”, monatlich für das Gremium der Ehepartner am Gerichtshof zu kochen.
Auslöser für den Entschluss, die Geschichte dieses Paares zu erzählen, war eine an der Beerdigung von Onkel Marty aufgeschnappte Bemerkung. «Noch kurz vor seinem Tod habe Marty gesagt: Dass er Ruth auf diesen Fall hingewiesen habe, sei die wichtigste Tat seines Lebens gewesen. Das habe ihr die Möglichkeit eröffnet, all das für die Rechte der Frauen zu tun, was sie getan hat.» Daniel Stiepelman: «Ich dachte: Was für eine grandiose Geschichte – hier ist dieses Ehepaar, das vor Gericht für dasselbe kämpft, was es zu Hause lebt.» Der Neffe berichtet im Interview, dass ihn Geldgeber nicht die wahre Geschichte des liebevollen Ehemanns, der die Karriere seiner Frau durch dick und dünn unterstützt, erzählen lassen wollten. Das sei unglaubwürdig: Er muss wütend auf sie werden, ihr mindestens mit Scheidung drohen. Doch für den Drehbuchautor Daniel Stiepelman war klar:
«Die Art, wie diese Ehe funktioniert, und Martys Rolle darin, das ist genau der Punkt!»
DIE STORY: Junge Frau schafft es an eine der elitärsten Universitäten der Welt, überwindet jede Menge sexistischer Vorurteile, schliesst das Studium mit Bestnote ab, wird währenddessen Mutter, kümmert sich gleichzeitig um den an Krebs erkrankten Mann, besucht für ihn auch noch Seminare, damit er das Studium ebenfalls abschliessen kann. Später wird sie die wichtigste Anwältin für Frauenrechte, gewinnt einen Musterprozess nach dem anderen, erhält eine Berufung ins höchste richterliche Amt des Landes, an den obersten Gerichtshof der USA – und führt auch noch diese verdammt glückliche Ehe.
MIR LIEGT DAS THEMA AM HERZEN - WESHALB ES EIN WEITERES BUCH GIBT
Mich begeistern solche Lebensgeschichten, weil sie mir Mut machen, im eigenen Leben den Traum des versöhnten Miteinanders von Frau und Mann zu leben. Und damit vielleicht als Paar sogar selbst Vorbild zu sein für die Gegenwart und nachfolgende Generationen von Paaren. Nach wie vor träume ich den Traum der göttlichen Ordnung von Gleichberechtigung in der christlichen Lebenswelt, wie sie meiner Meinung nach von Anfang an gedacht war. Deshalb habe ich ein weiteres Buch geschrieben, das im Juni 2019 im SCM-Verlag erscheinen wird: ENDLICH GLEICH! – Weshalb Gott schon immer mit Männern und Frauen rechnet.
Ich will in diesem Buch aufzeigen, was in Bezug auf die Gleichstellung von Frau und Mann in der Vergangenheit der christlichen Lebenswelt schiefgelaufen ist. Denn ohne zu erkennen, was schiefläuft, gibt es keine Umkehr und keine Neuausrichtung. Erst Erkenntnis und Reflektion machen Veränderung möglich. Deshalb ist das Buch eine Aufforderung, genau hinzusehen und hinzuhören. In diesem Fall auf die Frage der Gleichberechtigung von Frau und Mann aus Gottes Blickwinkel. Wir können die Vergangenheit nicht ändern, wir haben sie nicht gewählt und nicht geprägt. Aber für das Heute können wir aus den Schlüssen der Vergangenheit etwas ändern für ein Morgen, das dem entspricht, was sich Gott für uns Menschen, weiblich und männlich, gedacht hat – von Anfang an – wiederhergestellt mit der Menschwerdung von Jesus.
Wenig Freiheit und nicht wenig Verbitterung prägt das Miteinander der Geschlechter in Gesellschaft, Partnerschaft und christlicher Gemeinschaft. Das Geschlechterunverständnis tritt gerade einmal mehr hier wie dort offen zu Tage. Es ist die Chance der christlichen Lebenswelt, die eigene Geschichte der Ungleichstellung der Geschlechter schamvoll zu betrachten, daraus die richtigen Schlüsse für einen Wandel zu ziehen und in die Tat der Geschlechterversöhnung umzusetzen. Als Zeugnis für ein gottgewolltes, solidarisches Einssein von Frau und Mann. Wie ein solches Einssein ganz praktisch aussehen könnte, das zeigt uns das Beispiel von Daniel Stiepelmans Tante Ruth und Onkel Marty. Ich persönlich brauche das Geschenk von ermutigenden Vorbildern, wir alle brauchen diese Vorbilder. Lassen wir uns beschenken.
Herzlich - Veronika
FROMM UND SEXY - RADIO SRF 2 KULTUR
Das Kreuz mit der Lust
Braucht die Kirche eine sexuelle Revolution?
Der Umgang der Kirche mit dem Thema Sex muss sich ändern, finden eine Sexologin und eine Theologin.
Autor: Dorothee Adrian
Sie ist zu einer Art Aufklärerin in der frommen Szene geworden: Veronika Schmidt. Die Sexologin aus Schaffhausen hat mit ihren Büchern «Liebeslust» und «Alltagslust» einen Nerv getroffen. Über 10’000 Exemplare hat sie vom ersten verkauft. Ihre Workshops, die sie in Freikirchen hält, sind ausgebucht.
«In der christlichen Lebenswelt bestimmt eine grosse Sprachlosigkeit das Thema», sagt Schmidt. «Diese möchte ich aufbrechen.»
Direkt zur Radiosendung hier:
Ein Mundartbeitrag auf SRF 1 mit weiteren Gedanken zur Gleichstellung von Mann und Frau und dem Ausblick auf mein drittes Buch. Ab Minute 9:30:
Das Bucherscheint im Juni 2019 im SCM-Verlag
VERONIKA SCHMIDT
ENDLICH GLEICH!
Warum Gott schon immer mit Frauen und Männern rechnet
BIN ICH BI- ODER HETEROSEXUELL?
foto: brett sayles
foto: brett sayles
Liebe Veronika
In Deinem Blog "erotische Gefühle der gleichgeschlechtlichen Freundin gegenüber" schreibst Du: "In jedem Menschen stecken homoerotische Anteile." Ich selbst habe seit 5 Monaten zum ersten mal eine Freundin. Ich würde mich von meiner Entwicklung her als heterosexuell bezeichnen, habe mich verschiedentlich in Mädchen verliebt und auch begehrliche Gedanken zum anderen Geschlecht hin gehabt. Eine Beziehung mit einer Frau habe ich mir wirklich gewünscht, und auch immer wieder während den zurückliegenden Singlejahren herbeigesehnt. Ich finde meine Freundin attraktiv und begehrenswert, worüber ich mich freue.
Jedoch hat mich vor einigen Monaten (kurz vor Start unserer Beziehung) die Frage „bin ich eigentlich wirklich heterosexuell oder bin ich bisexuell?" völlig verstört, einhergehend mit teils gravierenden Schlafproblemen. Weshalb ich mir diese Frage stellte? Wenn ein Mann gut aussieht, fällt mir das auf. Zudem hatte ich schon gewisse homoerotische Phantasien, wie z.B. die Vorstellung, ob es nicht auch lustvoll wäre, selbst einmal einen Penis in den Mund zu nehmen. Oder die Vorstellung, selbst penetriert zu werden. Auch stellte ich fest, emotional nicht nur von Frauen berührt zu werden, sondern auch von (feinfühligen) Männern.
Nachdem ich Rat suchte und mich etwas zum Thema "sexuelle Orientierung" informiert hatte (u.a. dass in jeder Persönlichkeit womöglich ein Stück "bi" stecken könnte), fand ich wieder einigermaßen Ruhe und den Mut für die Beziehung mit meiner Freundin. Wir fühlen uns beide bisher in unserer Partnerschaft sehr bestätigt. Mit dem Sex wollen wir bis zu einer möglichen Ehe warten, weil wir uns diesen verbindlichen Rahmen für unser Sexleben wünschen. Meine Freundin spricht mich erotisch an, doch nagt in mir immer mal wieder der Zweifel, ob ich im Grunde eigentlich bisexuell bin. Da wir eine Ehe anstreben, möchte ich einen "klaren Kurs" leben und mich prüfen.
Deshalb meine Fragen: Wie verhält es sich mit dem "Bi-Empfinden“ bei Männern? Dass Frauen manchmal gewisse Bi-Tendenzen haben, habe ich verschiedentlich gehört (auch von meiner Freundin, mit der ich mich über dieses Thema schon unterhalten habe). Welcher Grad des Bi-Empfindens fällt noch unter "Heterosexualität" und wann ist von richtiger "Bisexualität" zu reden? Und wie ist die Thematik der "Bisexualität" bzw. dem tendenziellen Empfinden von Bisexualität in den biblischen Kontext einzuordnen? Lässt sie sich mit dem biblischen Menschenbild vereinbaren? Die Bibel äußert sich zu diesem Thema ja nicht direkt, und von manchen konservativen Christen wird das "geschaffen als Mann und Frau" gleichgesetzt mit ausschliesslich heterosexuell.
Ich danke dir herzlich für deine Antwort. Mike, 25 Jahre
Lieber Mike
Wir reden in Bezug auf die Orientierung der Sexualität von Anziehungskodes. Diese können sowohl das andere Geschlecht, das eigene Geschlecht, beide Geschlechter oder auch Objekte, Szenarien, bestimmte Körperteile etc. betreffen. Vor allem wenn die sexuelle Erregbarkeit ausschliesslich letztere Dinge betreffen, spricht man von eingeschränkten Anziehungskodes (Fetischismus). Die sexuellen und emotionalen Anziehungskodes – das, was Menschen sexuell und emotional anzieht und erregt – können sich sowohl in der Realität abspielen, als auch in der Fantasie oder in Träumen. Die Anziehungskodes geben Hinweise auf die die sexuelle Orientierung. Menschen können über ein breites Spektrum und eine grosse Vielfalt und Varianten von Anziehungskodes verfügen.
Dass einen auch das eigene Geschlecht sexuell anzieht, ist nicht aussergewöhnlich, auch nicht bei Männern. Eine von gegenseitiger erotischer Anziehung geprägte Beziehung in der Bibel finden wir bei David und Jonathan.
Als David aufgehört hatte, mit Saul zu reden, verband sich das Herz Jonathans mit dem Herzen Davids, und Jonathan gewann ihn lieb wie sein eigenes Leben. Und Jonathan schloss mit David einen Bund, denn er hatte ihn lieb wie sein eigenes Leben. 1. Samuel 18, 1 + 3
Oft schon wurde vermutet, diese Beziehung sei eine homosexuelle. Kann sein, doch David begehrte auch Frauen. Bei David und Jonathan sehen wir eine starke emotionale Verbindung – was ebenfalls für Männer nicht ungewöhnlich ist: “David fiel auf sein Antlitz zur Erde und beugte sich dreimal nieder, und sie küssten einander und weinten miteinander, David aber am allermeisten.” (1. Sam. 20, 41) Ich denke, entweder man ist emotional empfindsam, gegenüber beiden Geschlechtern, oder man ist eben nicht so der Gefühlsmensch. Wer einen feinfühligen, sensiblen Charakter sein eigen nennt, wird auf menschliche Reize emotional reagieren, unabhängig des Geschlechts. Herzergreifend ist denn auch Davids Klagelied, als er von Jonathans Tod erfährt und stellt diese Liebe über die der Frauen:
Weh ist es mir um dich, mein Bruder Jonathan, ich habe große Freude und Wonne an dir gehabt. Du warst mir sehr lieb. Wunderbarer war deine Liebe für mich, als die Liebe der Frauen. Ach, die Helden sind gefallen, die Waffen des Kampfes verloren." 2. Samuel, 1, 26 - 27
Grundsätzlich können Menschen sexuelle Fantasien in verschiedenste Richtungen haben. Von einer gewissen Bi-Tendenz kann womöglich bei bis zu 50 % aller Männer ausgegangen werden [vgl. Kinsey-Report 1948]. Wenn laut dieser Studie rund die Hälfte aller Männer (und Frauen) einen gewisse Bisexualität innerhalb der Heterosexualität mindestens in der Fantasie nicht ausschliessen, zeigt das die Wandelbarkeit der sexuellen Anziehung. Sexualität ist formbar. Was ich damit aber nicht sagen will, ist, dass gleichgeschlechtliche Sexualität „umgeformt“ werden kann, wenn diese als eindeutig erlebt wird. Ein Hinweis, worauf man „steht“, gibt die Verliebtheit. Obwohl man sich Sexualität mit beiden Geschlechtern vorstellen kann, verliebt man sich meist nur in das eine Geschlecht. Bi-Sexualität würde nach dieser Logik bedeuten, man verliebt sich seit der Pubertät wechselnd in Männer und Frauen und gibt beiden Geschlechtern gleiche Präferenz.
Da Du Dich in Frauen verliebst und Frauen sexuell erregend findest, ist Deine Geschlechter-Anziehung vermutlich heterosexuell, auch wenn Du Dir vorstellen könntest, Männer zu erotisieren. Die verschiedenen Körper mögen Dich sexuell anziehen, doch das bedeutet noch nicht, in den Menschen, der in diesem Körper steckt, verliebt zu sein, ganzheitlich, sexuell-körperlich und auf emotionaler Ebene. Wenn Du Dich in Deiner Anziehung verunsichert fühlst, kannst Du die Erotisierung des anderen Geschlechts (und Deines eigenen) verstärken über das sexuelle Begehren:
Damit ist die Vorwegnahme erotischer Erfahrungen oder Fantasien gemeint, die den Erregungsreflex auslösen und begleiten. Richte diese Fantasien darauf, den weiblichen Körper zu erotisieren, aber auch Dich in der Vorstellung als Liebhaber zu sehen, der die Frau begehrt und lustvoll in sie eindringt. Wenn Dich sexuelle Fantasien von Oralsex mit einem Mann erregen, dann dürfen sie als Erregungsquelle sein. Sexuelle Fantasien erfüllen ihren eigenen Zweck und müssen nicht in die Realität umgesetzt werden. Penetriert zu werden oder Oralsex kann aber auch alternativ gelebt werden mit der Frau (Oralsex, Analmassage, Toys etc.), sofern die Partnerin damit einverstanden ist. Du kannst diesen Bildern aber auch entgegenwirken, indem Du Deine eigene Intrusivität (das Eindringen des Penis) mehr erotisierst und in Deine männliche Kraft gehst.
Da Ihr keinen Sex möchtet, bleibt es vorerst bei der Vorstellung und vielleicht auch bei entsprechenden Erfahrungen in der Selbstbefriedigung. Lest doch miteinander mein Buch LIEBESLUST, das könnte Euch Denkanstösse geben. Denn auch für Deine Freundin wäre eine Vorbereitung auf Eure gemeinsame Sexualität wünschenswert, indem sie ihre Vaginalität entwickelt. Was bedeutet, ihren vaginalen Innenraum zu entdecken und sich die Vagina anzueignen als Raum weiblicher Erotik, um damit irgendwann lustvolle Begegnungen mit Dir und Deinem eindringenden Penis, Finger zu erleben. Indem Ihr Euch selbst als lustvolle Frau oder lustvollen Mann erlebt, entwickelt sich das Gefühl der Geschlechtszugehörigkeit und der sexuellen Selbstsicherheit, aber auch die Anziehungskodes bezüglich der anderen Person.
Aus christlicher Sicht ist eine Beziehung monogam. Solltest Du Dich im Laufe einer zukünftigen Ehe auswärts verlieben, was passieren kann, dann bleibt für Dich die Herausforderung dieselbe, egal ob Du Dich in eine andere Frau oder einen anderen Mann verliebst. Nämlich mit dieser Verliebtheit so umzugehen, dass Du Dich auf allen Ebenen Deiner Frau (wieder) zuwendest, falls Du davon wegzudriften drohst. Wenn wir wissen, wie Anziehung funktioniert, können wir das. Auch ist es ganz klar eine Frage der Entscheidung. Verliebtheit darf sein (oder wird passieren), doch dieser Verliebtheit nachgeben, kann man entgegensteuern.
Sexualität beinhaltet nicht einfach nur die körperliche Anziehung, sondern für viele Menschen ist damit der Wunsch verbunden, eine ganzheitliche Hingabe an einen anderen Menschen zu leben, auf geistiger, seelischer und körperlicher Ebene. Die Bibel nennt dies, den anderen Menschen „erkennen“. Diese ganzheitliche Erfahrung wünsche ich Euch als Paar von ganzem Herzen. - Veronika