"ACH, DASS ER MICH KÜSSE MIT DEN KÜSSEN SEINES MUNDES, DENN DEINE LIEBE IST KÖSTLICHER ALS WEIN." Hohelied 1,2
Küssen ist kein sehr häufiges Wort in der Bibel. Erwähnt sind vor allem Begrüssungsküsse und Küsse des Verrats. Dann küssen sich noch Gerechtigkeit und Frieden (Ps 85,11). Zwei Stellen sind's, die das Sehnen nach einem Kuss ausdrücken, natürlich im Hohelied. Nehmen wir die Worte Zunge und Lippen dazu, werden es ein paar mehr. In unserer heutigen Zeit ist die Sehnsucht nach Küssen irgendwie auf der Strecke geblieben. So erscheint es mir wenigstens. Nicht nur das Küssen ist verschwunden, sondern auch das Schmusen. Diese beiden bedingen sich irgendwie.
Ich kann das mit keiner Studie belegen. Aber ich wundere mich, wo all die schmusenden und küssenden Paare in der Öffentlichkeit geblieben sind, die es in meiner Jugendzeit zu Hauf gab. Und wo sind die Händchen haltenden Paare? Sogar beim Sex wird offenbar nicht mehr geküsst. Das habe ich in der Beratung herausgefunden. Was ist denn da passiert?
Ist das Küssen als Kunst verloren gegangen, weil wir heute gleich sofort Sex haben? Und es so die "erlaubte" Vorstufe des Sex - Küssen und Schmusen - gar nicht mehr braucht? Haben wir es schlicht und einfach vergessen - das Küssen?
Es ist ein Paradox unserer Zeit. Die einen Menschen haben ohne Vorstufen gleich Sex, andere wollen nicht nur mit dem Sex bis zur Ehe warten, nein, sie verbieten sich auch gleich noch das Küssen davor. Doch alle bringen sie sich damit um eine entscheidende Lernstufe der Sexualität und um Finessen der Erotik. Ausserdem ist Küssen ein guter Test dafür, ob man als Paar zusammenpasst oder nicht. Wer das Zungenküssen und Schmusen aufregend und erregend findet, kann davon ausgehen, dass es mit einem Lernweg auch im Bett gut klappen wird.
Der Verlust des Küssens ist sehr bedauerlich. Laut dem niederländische Mikrobiologen Remco Kort stärkt intimes Küssen nicht nur die Bindung zwischen den Liebenden, es führt außerdem zu einer erwünschten, möglichst vielfältigen Bakteriengemeinschaft. Dafür kann es sinnvoll sein, viel zu küssen. Zumindest solche Partner, die eine gesunde Mundflora haben. Denn längst nicht alle Bakterien machen krank - im Gegenteil. Auf der Haut und den Schleimhäuten schützt uns die Gemeinschaft sogar vor Krankheiten. Kort sagt: „Küssen ist eine effektive Methode, innerhalb kürzester Zeit 80 Millionen Bakterien zu übertragen. Das stärkt die Bindung und führt auch dazu, dass enge Partner eine sehr ähnliche Mundflora haben." Doch längst nicht alle Gemeinschaften der Welt pflegen die Kultur des innigen Küssens. Global gesehen nur gerade mal die Hälfte. Je nördlicher gelegen, desto häufiger wird der Kuss praktiziert, eher in komplexeren sozialen Systemen und stärker industrialisierten Gegenden der Welt.
Küssen, Schmusen und zärtliche Berührungen sind nicht einfach der Auftakt oder ein Teil des Vorspiels zum Sexualakt. Küsse und Berührungen sind eine eigene Form der Erotik und eröffnen die unterschiedlichsten, reichsten sensorischen Erlebniswelten von Sexualität. Wenn wir tiefe Gefühle füreinander empfinden, werden Berühren und Küssen zu einem intensiven sinnlichen Erlebnis. Oder umgekehrt – das sinnliche Erleben von intensivem Berühren und Küssen lässt uns tiefe Gefühle füreinander empfinden. Doch was tun, wenn wir unsere Küsserei nicht schön, angenehm und erregend finden? Kann man das lernen? Im Buch INTIM von Iris Muhl sagt der Paar- und Sexualtherapeut Arthur Domig: „Es ist schwieriger, jemandem den Zungenkuss beizubringen als den Geschlechtsverkehr.“ (… ! ...) Er empfiehlt, mit Orangenschnitzen im Mund zu üben. Es gälte, die Orange zu geniessen, die Zunge zu verwenden und die Flüssigkeit und Konsistenz zu erforschen.
Vom Küssen des Mundes ausgehend finden wir viele Körperstellen, die sich küssend berühren und erforschen lassen. Es ist etwas sehr Erotisches, den ganzen Körper des Partners zu entdecken, Zentimeter für Zentimeter. Im Sex landen wir mit den Gedanken und Händen viel zu schnell bei den Genitalien. Beim „Südpol“, wie es der Sexologe Jean-Yves Déjardins nennt. Doch er plädiert dafür, erst den „Nordpol“ zu entdecken. Im Nordpol die Lust auf den Südpol zu wecken. Nord- und Südpol sind so vernetzt miteinander, dass Küssen und Berühren oben die Erregung unten wecken und die Genitalregion intensiv darauf reagiert mit mehr Blutfluss, Wärme und Kribbeln. Eine der wichtigsten Voraussetzungen - vor allem für Frauen - um genügend erregt zu sein. Um Berührungen am Geschlecht und den Geschlechtsverkehr lustvoll und erregend zu finden und nicht unangenehm oder schmerzhaft.
Das Küssen ist die wohl sinnlichste Berührung, die es gibt. Beim Küssen drücken wir unmittelbar und ohne Worte unsere Empfindungen aus, sanft oder heftig, fordernd oder hingebungsvoll. Für viele ist Küssen intimer als Sex, sind dabei die Gefühle viel intensiver. Doch manchmal können sich Paare kaum erinnern, wann sie sich das letzte Mal richtig lange und heiss, intensiv und verführerisch geküsst haben. Die zwei Liebenden im Hohelied der Bibel hingegen können nicht aufhören damit, die Vorzüge des Mundes, der Lippen und der Zunge des anderen zu preisen.
„Deine Lippen, meine Braut, sind wie träufelnder Honig. Ja, Honig und Milch sind unter deiner Zunge.“ (Hoheslied 4,11; NLB)
„Seine Wangen sind wie Balsambeete voll duftender Kräuter, seine Lippen wie Lilien, triefend von flüssiger Myrrhe.“ (Hoheslied 5,13; NLB)