Hallo Veronika
Ich habe Deine Beiträge zum Thema Aufreger Solosex gelesen, und wir diskutierten in unserer Gruppe schon öfters über deine Art, heisse Eisen anzufassen. Besonders das Thema Selbstbefriedigung beschäftigt uns in Bezug auf die Single-Sexualität. Wenn Du sagst, Selbstbefriedigung gehört zur Entwicklung des Menschen dazu und könnte das ganze Leben hindurch eine bedeutende Rolle spielen, was heisst das dann für einen gläubigen Single? Wie kann man als Single Sexualität sauber leben, geht das überhaupt? Und wenn jemand Solosex praktiziert, das aber nicht möchte und davon frei werden will, was würdest Du ihm raten?
Mirjam, 34 Jahre
Liebe Mirjam
Es freut mich natürlich sehr, dass meine Blog-Beiträge gelesen und diskutiert werden. Doch nun zu Deiner Frage bezüglich dem Sexleben von Singles. Grundsätzlich ist Sex nicht überlebensnotwendig. Man kann auch glücklich und zufrieden sein ohne. Auch ohne Solosex. Aber was wir nicht können, ist zu leben ohne Beziehungen, die uns Nähe, Zärtlichkeit und ganz besonders Hautkontakt geben. Die Haut ist unser grösstes und zuerst entstandenes Organ. Die Haut schützt uns und ermöglicht den Austausch von Zärtlichkeit und Emotionen mit anderen. „Der Tastsinn ist der Sinn, der am unmittelbarsten mit der Haut verbunden ist. Ein Mensch kann leben, wenn er blind und taub ist, weder Geschmacks- oder Geruchssinn besitzt, aber ohne die Funktion der Haut könnte er keinen Augenblick überleben.“ (Ashley Montagu). Neben Berührungen von uns selber oder einem anderen Menschen geniessen wir Berührungen auf der Haut durch Luft, Wasser, Sonne, Barfusslaufen und so weiter. Säuglinge ohne Körperkontakt und Berührungen der Haut können schwere Verhaltensauffälligkeiten entwickeln und im schlimmsten Fall sterben.
Weshalb ich das ausführe? Weil genau das für alleinstehende Menschen eine grosse Herausforderung ist. Jeder von uns braucht soziale Kontakte, emotionales und körperliches „Umarmtwerden“. Vor nicht langer Zeit wurde eine Studie veröffentlicht zur Zufriedenheit von Priestern mit ihrem (zölibatären) Leben. Sie zeigt, dass diese als besonders belastend den Verzicht auf Sexualität, Intimität und eigene Kinder empfinden. Das hat meines Erachtens genau mit diesen ungestillten emotionalen Bedürfnissen zu tun. Ein Single braucht in verschiedensten Formen Nähe, Zärtlichkeit und Hautkontakt mit sich selber oder Freunden. Solosex kann eine Form davon sein. Jemand fragte mich, ob ich so keck sei, zu behaupten, dass Solosex überhaupt kein Problem sei. Ja, das sage ich. Ich würde sogar sagen, dass es nicht nur kein Problem ist, sondern uns sogar gut tun kann. Nirgendwo finde ich in der Bibel einen Hinweis, der sagt, ich würde mich oder meinen Geist damit verunreinigen. Aber ich habe schon Menschen getroffen, die mir sagten, sie verzichteten darauf, weil ihre unerfüllte Sehnsucht nach einem Partner dadurch nur noch grösser werde.
Du fragst weiter, was ich rate, wenn jemand auf diese Form der sexuellen Bedürfnisbefriedigung verzichten will. Die älteste, aber heute nicht sehr populäre Form des Verzichts auf Sex ist die Sublimation. Das heisst, ich finde ein soziales Engagement, erfüllende Tätigkeiten, nahe Freundschaften, andere Genüsse, die mich so befriedigen, dass ich den Sex als solches nicht sehr vermisse. Unser freier Wille macht es möglich, dass ich etwas haben könnte, aber freiwillig darauf verzichte. Ich kann aber auch wählen, es zu wollen und zu geniessen. Und manchmal lässt die Tatsache, etwas nicht haben zu können, die Sehnsucht danach ins Unermessliche steigen.
Das führt uns zu einer anderen Tatsache. Je mehr wir etwas bekämpfen, desto weniger werden wir den Kampf gewinnen. Der Neurobiologe Joachim Bauer sagt in seinem Buch „Selbststeuerung – Die Wiederentdeckung des freien Willens“: „Gnadenlose Selbstkontrolle allein macht keinen Sinn. Die pauschale Verfolgung triebhafter Grundbedürfnisse und eine feindselige Haltung gegenüber den genüsslichen Seiten des Lebens sind unmenschlich, destruktiv und letztlich zum Scheitern verurteil.“ Wer entschliesst, für sein Leben auf Sex zu verzichten, braucht erstmal eine positive Einstellung zu seinem Körper und zu seinen sexuellen Bedürfnissen. Ja mehr noch, ein vorbehaltloses Ja dazu, dass er als sexuelles Wesen geschaffen ist. Das heisst, wenn ich bis jetzt erfolglos gegen mein Bedürfnis angekämpft habe, sollte ich es eher zulassen und mich bemühen, dass ich die sexuelle Begegnung mit mir selbst aus vollem Herzen geniesse. Erst wenn ich geniessen kann, wird es möglich, freiwillig darauf zu verzichten. Danach erst, sagt Joachim Bauer, kann sich mir das Geheimnis erschliessen, dass eine gelungene Selbststeuerung in sich selber einen hohen Lustfaktor hat. Dass ein momentaner Verzicht reicher und eine bewusste Selbstbeschränkung freier machen kann. Dass eine akzeptierte Anstrengung zu einem höheren Mass an späterem Glück führt.
Ob sexuelle Abstinenz zu uns passt oder nicht, wir uns dazu berufen fühlen, können wir nur für uns selbst entscheiden. Hingegen zeigt uns die Geschichte, dass der Zwang, auf die Befriedigung sexueller Bedürfnisse zu verzichten, zu Missbräuchen geführt hat, die vielleicht nicht passiert wären, gäbe es die schamfreie Möglichkeit, diese sexuellen Bedürfnisse in aller Freiheit bei sich selbst zu stillen.
Ich grüsse herzlich Eure Diskussionsrunde - Veronika
NACHTRAG: Das Buch zum Thema, erschienen, September 2015: EINZELSTÜCK - Solo leben. Und zwar glücklich. - von Tina Tschage