Liebe Veronika
Bei der Suche nach dem Ursprung und Verstehen meiner sehr geringen Lust an sexueller Begegnung und körperlichen Reizen bin ich auf den Begriff Asexualität und Grey-Asexualität gestossen. Sind für Dich diese Definitionen gegebene sexuelle Orientierungen oder bist Du der Auffassung, dass alles gelernt werden kann und muss, egal welche Ausgangslage man hat?
Ich erkenne mich wieder in den Schilderungen der Grey-Asexualität, wo Romantik und Beziehungsfähigkeit ihre Wichtigkeit haben, jedoch wenig Verlangen nach körperlicher Nähe besteht. Sexualität ist in diesem Fall nicht wichtig für das persönliche Wohlbefinden und es ist keine spontane Lust für sexuelle Begegnung vorhanden.
Wohl stimulieren mich Bilder und Geschichten, jedoch produziert das kein Verlangen bei mir, das Anregende selbst auszuleben oder aktiv zu werden. Ich habe keine Abneigung gegen Sex, meinen eigenen Körper oder den meines Mannes, auch keine negativen Erlebnisse in der Kindheit oder Jugend. Es ist mir einfach kein Bedürfnis, auch wenn wir viel Sex haben (viermal die Woche) und ich diesen nicht grundsätzlich negativ erlebe. Ich kann dabei auch Spass haben, fühle mich meinem Mann nahe und verbunden und komme auch zum Orgasmus. Trotzdem - es gäbe für mich anderes, dass mit weniger Anstrengung mehr Spass macht, ich lieber Zeit darin investiere.
Ich weiss, dass mein Mann eine hypersexuelle Tendenz hat. Es würde mich entlasten, mich nicht mehr falsch fühlen zu müssen. Ich möchte keine Zeit und Energie mehr darauf verwenden, etwas zu produzieren, das nun mal nicht da ist und ich nicht vermisse. Nicht, dass ich keinen Sex mit meinem Mann mehr stattfinden lassen wollte. Aber ich möchte dazu stehen dürfen, wenn ich nichts fühle oder nicht mehrmals die Woche mit viel Aufwand Erregung und einen Orgasmus produzieren will.
Zufrieden ist mein Mann damit natürlich eh nicht, da er sich eine Frau wünscht, die viel Spass an Sex und körperlicher Nähe hat. Er hadert damit, dass wir mein mangelndes Bedürfnis nicht vor der Ehe bemerkten und er nun immer seine Bedürfnisse zurückstellen muss. Auch ist er sehr verunsichert, was denn nun als Ergänzung zum Paarsex für ihn möglich und richtig ist… Wie siehst Du das Ganze?
Liebe Grüsse, Lenia, 42 Jahre
Liebe Lenia
Es gibt aus Sicht des von mir gelernten Sexualkonzepts keine Asexualität oder Grey-Asexualität. Diese Begriffe sind Erklärungsversuche für das mangelnde Bedürfnis von Menschen nach sexuellem Erleben aus ganz verschiedenen Gründen. Wobei es Unterschiede gibt. Die einen möchten überhaupt keinen Sex, auch nicht mit sich selbst, die anderen möchten keinen Sex mit einem Partner, haben aber sehr wohl sexuelle Bedürfnisse und erleben auch Erregung mit sich selbst und praktizieren Solosex. Das wären dann sozusagen sexuelle «Autisten».
Da wir in der Sexualtherapie davon ausgehen, dass Sexualität, wie alle anderen Fähigkeiten des Menschen, im Laufe des Lebens erlernt werden muss und kann, ist damit das sexuelle Lusterleben bei asexuellen Menschen sozusagen nicht erlernt. Lust, Lust auf Sex, sexuelle Bedürfnisse sind nicht automatisch gegeben. Das einzige, was wir bei der Geburt bezüglich Sex mit auf den Weg bekommen, ist der genitale Erregungsreflex. Sexuelles Lernen beruht u.a. auf der Wahrnehmung des eigenen Körpers und des genitalen Erregungsreflexes. Auf diesem Reflex, genau wie bei allen anderen Reflexen (Atemreflex, Schluckreflex, Bewegungsreflexen etc.), baut sich das Lernen auf. In der Sexualität sind das die sexuellen und erotischen Fähigkeiten. Wir unterscheiden dabei körperliche Fähigkeiten und emotionale Fähigkeiten.
Mit den Bedürfnissen und Nicht-Bedürfnissen ist das so eine Sache. Wir müssen unter Umständen lernen, Bedürfnisse zu befrieden, wenn sie uns, unseren Zielen oder jemand anderem schaden. Oder wir müssen sie wecken, wenn sie uns, unseren Zielen oder dem Zusammenleben dienen sollen. Einige von uns sind vielleicht mit einem ganz natürlichen Bedürfnis nach körperlicher Bewegung und gesundem Essen ausgestattet, ein entsprechender Lebensstil kostet sie wenig Überwindung. Andere müssen sich erst dazu zwingen, bis der gesunde Lebensstil zu einer liebgewordenen Gewohnheit werden kann. Dasselbe gilt auch für unser Sexleben.
Sex ist zwar kein Muss, aber der Konsens ist doch weit verbreitet, dass Sexualität zu einer Beziehung dazugehört und ein Paar auf verschiedenen Ebenen verbindet. Der Psychoanalytiker Peter Schneider nennt es ein «Akt der Freundlichkeit». Andere Sexualtherapeut*innen sagen, wer in der Beziehung keinen Sex wolle, drücke sich um die Verantwortung in der Beziehung.
Nun treffen sich bei Euch ein Nicht-Bedürfnis mit einem Hyper-Bedürfnis, was ein bestimmtes Beziehungsmuster in Gang setzt. Die Erklärung «asexuell» wäre so gesehen ein verlockendes «Attest», welches dazu berechtigt, Sexabstinenz einzufordern, als Gegenpool zu den Über-Forderungen nach Sex. Doch ich möchte Dich eher ermutigen, zwei andere Schienen zu befahren. Einerseits Dich selbst auf einen sexuellen Lern- und Genussweg zu begeben, um sexuelle Bedürfnisse bei Dir zu etablieren, andererseits zu lernen, in Deiner Beziehung zu Dir selbst zu stehen und Dich abzugrenzen. Denn für einen «asexuellen» Menschen lässt Du Dich auf ganz schön viel Sex ein.
Sex und Liebe brauchen sowohl Nähe als auch Distanz. Von Distanz habt ihr vermutlich zu wenig. Wenn ihr so viel Sex habt, kann bei Dir weder eine eigenständige Sehnsucht nach körperlicher Nähe entstehen, noch hast Du genügend Freiraum für eine eigene sexuelle Entwicklung. Erst dann kann eine gewisse Einsicht entstehen, dass der Aspekt Sexualität für eine Paarbeziehung grundsätzlich wichtig ist und es gilt, Verantwortung für seinen Part in der Ehesexualität zu übernehmen. Auch den Part, ein Bedürfnis zu entwickeln, wenn keines da ist.
Offenbar war es Dir in Eurer Ehe nie möglich, eigene sexuelle Bedürfnisse und Empfindungen zu entwickeln, weil diejenigen Deines Mannes alles zugeflutet haben. Wobei ich der Gerechtigkeit halber sagen müsste: «…Du Dich von den Bedürfnissen Deines Mannes hast zufluten lassen.» Sexualität wird weniger zum Krampf, wenn Du Dir erlaubst, darüber anders zu denken, aber auch, indem Du gezielt an Deinen Körperwahrnehmungen arbeitest, ins Spüren und in die Bewegung kommst, wie ich es im Buch ALLTAGSLUST beschreibe. Auch einige ungute Beziehungsmuster sind Thema in diesem Buch. Macht Euch als Paar unabhängiger voneinander! Bestehe auf deiner Unabhängigkeit. Bestehe darauf, dass Dein Mann sein Repertoire an Entspannungstechniken über den Sex hinaus erweitert, für sich selbst. Selbstverständlich kann er sexuelle Bedürfnisse auch mit sich selbst ausleben - und dabei grad auch in den sexuellen Fähigkeiten für sich und als Liebhaber dazu lernen (ALLTAGSLUST). Lass nicht zu, dass Dein Mann dauernd das Thermometer in Euren Sex hält: zu lau, zu wenig heiss, nicht das richtige, zu wenig Leidenschaft, nichts wert. Widerstehe seinem Druck, damit sich bei Dir, bei ihm und in Eurem Sexleben etwas Neues entwickeln kann.
Herzlich - Veronika