In einer dieser Rezensionen steht: "(…) würde ich mir aber mehr Achtung für das Gewissen des Einzelnen wünschen. So ist die Selbstliebe, eine verschönte Bezeichnung für Selbstbefriedigung, für sie (Veronika Schmidt) eine wichtige Grundlage zum Erlernen der sexuellen Liebesfähigkeit, denn wer nicht weiß, was ihm guttut, wird schwerlich befriedigt werden. Ich denke aber, dass dieses Erlernen auch im Miteinander der Beziehung geschehen kann, und dass „Selbstliebe“ nicht dafür die Voraussetzung sein muss. Ob Selbstbefriedigung in Ordnung ist, ist in christlichen Kreisen umstritten. Es kann nicht richtig sein denjenigen, der dabei ein schlechtes Gewissen hat, zur Selbstbefriedigung zu drängen. Letztendlich sollte jeder selbst entscheiden, ob die Maßstäbe der Bibel für ihn uneingeschränkt gültig sind, oder ob er sie lieber durch moderne, wissenschaftliche „Erkenntnisse“ relativieren will. In der Bibel findet sich gottgewollte Sexualität immer innerhalb einer Beziehung, zwischen Ehemann und Ehefrau."
Und in einer anderen: "(…) Zwei Dinge habe ich aber trotzdem zu bemängeln. Zum einen die Ausführungen zum Thema Selbstbefriedigung, die für mich eher wie eine lange Rede um den heißen Brei wirken, ohne wirklich eine Aussage zu treffen. Dazu kommt, dass ich generell Bibelstellen vermisse. Es handelt sich ja um einen Sexualratgeber für Christen, warum zitiert man dann Jörg Zink, anstatt die Bibel. Das habe ich, auch wenn ich die Zitate sehr treffend und schön finde, nicht ganz begriffen."
Ja, die Bibelstellen. Christen suchen immer nach Bibelstellen. Um zu beweisen, zu rechtfertigen und sich in moralischen Fragen zu orientieren. Christen sind versessen auf Details. Als wäre die Bibel ein Lebenshilfe-Buch. Ist sie natürlich, aber nur im globalen Sinn. Biblische Orientierung ist eine im grossen Bogen. Letztlich dem grossen Bogen der Liebe. Der Liebe Gottes zu uns Menschen und der daraus folgenden Liebe zueinander. Daraus resultiert Gnade und Barmherzigkeit. Das hilft mir persönlich, um mich in Details des Lebensalltags zu orientieren. Es gab ja mal die grosse Bewegung WWJD (what would Jesus do). Gerade in Bezug auf sexuelle Themen lebte Jesus explizit Liebe und Barmherzigkeit und nicht Gesetzlichkeit. Ich habe jede nur erdenkliche Bibelstelle zum Thema Sex in LIEBESLUST oder in ALLTAGSLUST oder in jeweils beiden Büchern verwendet. Mehr* gibt die Bibel dazu beim besten Willen nicht her. Ausser wir projizieren unsere Haltung aus vorgefassten und vorgeprägten Meinungen in sämtliche Bibelstellen zu Unzucht und Ehebruch - mit dem bekannten Resultat der Verdammung.
Diese zwei Rezensionen haben mir die Augen dafür geöffnet, was das Missverständnis im Thema sein könnte, das mir bis anhin vielleicht auch nicht so recht klar war. Unsere Missverständnisse sind ja immer Kommunikationsprobleme. Was der Absendende einer Botschaft rüberbringen will, wird oft vom Empfangenden ganz anders verstanden. Grund sind unserer Prägungen, Brillen, Ohren, Dogmen, Wertvorstellungen, unser jeweiliger Lebens- und Glaubenskontext - ich höre, was ich zu hören glaube.
Der Augenöffner ist für mich die Aussage, ich redete zum Thema Selbstbefriedigung um den heissen Brei herum, ohne wirklich eine Aussage zu treffen. Erst dachte ich: Hallo???... das Buch ALLTAGSLUST ist eine einzige Aussage zu Selbstbefriedigung… wie kann man das übersehen! Und dann realisierte ich, dieser Person fehlten nicht Erklärungen zur Selbstbefriedigung als Sache an sich, sondern die moralische Rechtfertigung und Begründung dazu. Das Missverständnis baut sich auf zwischen MORAL und LEBENSPRAXIS. In diesen zwei konkreten Fällen steht die Lebenspraxis offenbar für suspekte „moderne, wissenschaftliche `Erkenntnisse`“. In der Buchbesprechung eines Onlineportals stand deswegen, ich hätte einen „beliebigen, säkularen" Ratgeber geschrieben. Ich wäre im Buch "fachlich, aber nicht geistlich". Was zwischen den Zeilen auch heissen könnte: "Ist sie überhaupt richtig gläubig – GLINUS**?"
Was gibt es dazu zu sagen, die Moral ist schnell abgehandelt:
Zu Selbstbefriedigung findet sich rein gar nichts in der Bibel, nichts, nada!
Selbstbefriedigung ist nur "gefühlt" unanständig. Aus der Bibel lässt sich für Selbstbefriedigung keine moralische Rechtfertigung aber auch keine moralische Verdammung ableiten. Eine Rechtfertigung lässt sich nur aus der Schöpfung selbst und ihrer Erforschung erkennen. Doch offenbar ist die Schöpfung (und damit der Schöpfer?) "suspekte moderne `Erkenntnis`". Wenn in der einen Rezension als Begründung gegen Selbstbefriedigung steht, dass in der Bibel gottgewollte Sexualität immer innerhalb einer Beziehung zwischen Ehemann und Ehefrau stattfindet, dann wird hier schlicht und einfach dem Thema Selbstbefriedigung Gewalt angetan, die eigene Meinung in die Bibel hineininterpretiert. Dann wird Paarsexualität als einzige Form der Sexualität anerkannt, alles andere ist Sünde. Die Selbstliebe (dieses Wort gilt als „beschönigend“) wird als schöpfungsmässig gegebener Entwicklungsschritt, als Lernfeld oder zur Befriedigung von (sexuellen) Sehnsüchten völlig negiert.
Der Gang um den heissen Brei
Es gibt keinen Gang um den heissen Brei. Meine Aussage ist: Ja, ich bin für Selbstbefriedigung aus verschiedensten Gründen, die man nachlesen kann. Das „Ja“ tropft aus allen Poren meines Blogs und meiner Bücher. Aber ja, Selbstbefriedigung ist freiwillig, kein Zwang. Ich dränge niemanden dazu, auch nicht in der Beratung. Und nochmals, die „biblischen Massstäbe zu Selbstbefriedigung“ gibt es nicht, sehr wohl aber das schlechte Gewissen, weil es uns ab dem 18. Jahrhundert eingetrichtert wurde („Der Untergang der Welt durch Onanie“). Davor war Selbstbefriedigung kein Tabu. Selbst die Kirchenväter waren bezüglich Sexualität nicht zwingend prüde, sofern der Geschlechtsverkehr in der Ehe stattfand. Was man den Kirchenvätern vor allem vorwerfen kann, ist ihre ausgesprochene Frauenfeindlichkeit, die dann sehr wohl sexistisch und schuldzuweisend war. Es würde sich sehr lohnen, ein paar Bücher zur Geschichte der Sexualität zu lesen oder im Internet zu recherchieren.
Die Abwehr kommt aus der eigenen Geschichte
Ekel dem eigenen Körper und allem Sexuellen gegenüber, eigenes Unwissen, moralische Zeigefinger aus Ideologien, Idealisierungen, Glaubenssystemen, Werturteilen und Denkweisen, schlechte Erfahrungen bestimmen unsere Grundhaltung zu Sexualität und wie sie ausgelebt werden kann. Wir sind geneigt, unsere eigenen Erfahrungen auf andere oder in die Bibel hinein zu projizieren.
Ja, Selbstbefriedigung kann zur Sucht werden und damit problematisch
Selbstbefriedigung kann als Ersatzbefriedigung dienen, zum Stressabbau, als Ausweichmittel bei Problemen. Sie kann problematisch werden, vor allem in Zusammenhang mit Pornografie. Alle Genussmittel dieser Welt können uns abhängig machen: Essen, Zucker, Schokolade, Kaffee, Alkohol, Zigaretten, Fernsehen, Computerspiele, Smartphones, Sport, Social Media, Zeitunglesen, Liebesfilme, Liebesromane, Arbeit, Hobbys, Kritiksucht… All das kann uns einsam machen, abhängig, unzufrieden, vom Partner wegbringen.
Lernfeld Selbstbefriedigung
In der Schöpfung angelegt
Wir werden in die Welt geboren – und können – nichts. Was uns mitgegeben wurde, sind ein paar Reflexe: Atemreflex, Saugreflex, Schluckreflex, Klammerreflex usw. Alle unsere Fähigkeiten zum Leben müssen wir uns aneignen, müssen erlernt werden: Sitzen, Laufen, Sprechen, selbständig Essen, Lesen, Schreiben, Rechnen, Kommunizieren, Frust aushalten usw. Gott hat uns Menschen auf eine Weise geschaffen, die uns herausfordert und geradezu zwingt, alles, wirklich alles, aneignen zu müssen in einem Lernprozess. Auch die Sexualität. Sexuelle Lust, sexuelles Begehren, sexuelle Fantasien, emotionale Intensität, sexuelle Selbstsicherheit, Verführung, Liebesgefühl, Kommunikation, erotische Kompetenz, sexuelle Erregung und Erregungssteigerung – alles angelernt. Angelernt sind auch alle Abwehrreaktionen zu Sexualität, geprägt durch Botschaften, die wir erhalten oder nicht erhalten haben, durch unbewusst aufgenommene Reaktionen unserer Umgebung.
Gegeben sind uns allein der Erregungsreflex und das biologische Geschlecht
Bei Knaben sehen wir den Erregungsreflex bzw. Erektionen unmittelbar, schon beim Säugling. Er greift zudem häufig zum Penis. Der Knabe, bzw. der Mann kommt zur Welt und hält seinen Penis in der Hand, um ihn nicht mehr loszulassen bis zu seinem Tod. Aus genau diesem Grund ist für den Mann der Zugang zu seiner Sexualität viel leichter als für die Frau. Für ihn ist sich anfassen und Erregung und Erektion selbstverständlich, was im Kindesalter keinerlei sexuelle Komponente hat, sondern sich einfach gut anfühlt. Entsprechend bilden sich in seinem Hirn Synapsen für Berührung, Wahrnehmung und Erregung seines Geschlechtsorgans. Es gibt praktisch keinen Mann, der sich nicht im Laufe seiner Entwicklung irgendwann selbst befriedigt.
Frauen besitzen selbstverständlich ebenfalls den Erregungsreflex, aber Frauen können ihre eigene Erregung nicht automatisch sehen. Sie können sie höchstens fühlen, doch auch das nehmen viele Frauen gar nicht war. Weshalb viele von ihnen nicht auf die Idee kommen, sich unten anzufassen und zu stimulieren. Oder wenn sie es tun, werden sie ermahnt und davon abgehalten. Frauen erzählen mir häufig, dass sie als Kleinkinder auf dem Boden schaukelten oder sich dagegen pressten, geschaukelt hätten auf einem Stuhl oder Schaukelpferd, sich angefasst hätten, aber dann davon abgebracht wurden. Vielen Frauen fehlen die entsprechenden Erregungserfahrungen durch die Entwicklung hindurch - ausser den „bösen“ Mädchen. Und somit fehlen ganz vielen Frauen die Synapsen im Hirn für Erregung und Erregungssteigerung und Wahrnehmung derselben, vor allem auch für den Innenraum der Vagina. Deshalb können sie nicht durch die Bewegungen des Beckens und des Beckenbodens beim Geschlechtsverkehr und durch die Berührungen des Penis zum Orgasmus kommen, sondern brauchen die äusserliche Stimulation. Was vollkommen in Ordnung ist - doch Frauen wünschen sich eben manchmal auch das andere.
Brachland Information
Oft bekommen Kinder und Jugendliche im Elternhaus keine Informationen zu ihrer sexuellen Entwicklung. In der christlichen Lebenswelt hören sie dafür später die mahnenden Botschaften, aber keine Ermutigung. Inzwischen werden zwar Kinder und Jugendliche aufgeklärt. Das bestätigen erfreulicherweise viele junge Paare in meinen Vorträgen. Doch die Auseinandersetzung mit Selbstbefriedigung, sexueller Identität, sexueller Selbstsicherheit, sexueller Eigenverantwortung und Informationen zu Sexualität an sich sind darin meist nicht enthalten. Im Gegenteil – selbst ganz junge Christen bekommen immer noch das Selbstbefriedigungsverbot zu hören – wenn auch vielleicht nicht mehr von Gemeindeverantwortlichen, sondern von Jugendgruppenleitern oder auch Gleichaltrigen. Der „Ehrenkodex“ mit Selbstoffenbarung und Rechenschaftspflicht hat sich mit dem Problemkreis Pornografie eher sogar wieder verstärkt.
Keine erfüllte Sexualität der Frau ohne Selbstbefriedigung
Ich kenne keine einzige Frau mit einer schon in jüngeren Jahren erfüllt erlebten Sexualität und Orgasmusfähigkeit, die sich nicht entweder in der Jugend selbst befriedigt hat oder sich später auf einen Weg der Selbstentdeckung begab. Und ich kenne keinen einzigen Ehemann, der damit ein Problem hätte, im Gegenteil. Aber ich kenne haufenweise Frauen, die den Sex erst in der zweiten Lebenshälfte geniessen können, weil sie so lange brauchten, ihren Körper zu entdecken - und haufenweise darob frustrierte Ehemänner.
Die grösste Hürde der unerfahrenen Frau ist, dass sie weder weiss, wie sich ein Orgasmus anfühlt, noch wie sie die Erregung dahin steigern kann. Mir wird immer wieder gesagt, das kann man doch mit dem Mann zusammen entdecken. Kann man, selbstverständlich. Wenn wir aber davon ausgehen, dass wir neu erlernte Fähigkeiten Tausend Mal wiederholen müssen, bis sie sitzen, dann rechne, wie oft ein Paar Sex haben sollte, bis dieser vor allem für die Frau erfüllend wird… Die Krux ist nur, dass Frauen gar keinen Sex wollen, solange er ihnen keinen Spass macht, ausser bis zum erfüllten Kinderwunsch. Üben, üben, üben gilt auch für den Sex.
Keine erfüllende ganzheitliche Orgasmus-Wahrnehmung beim Mann, ohne sinnvolle Selbstexploration
Da Jungs nur mahnende Informationen zu Selbstbefriedigung bekommen, erfahren sie oft nicht, dass ihr Rubbelmodus unter hohem Druck der Hand und grosser Anspannung im Körper den kleinstmöglichen Genuss bringt – die kurzfristige Entladung und Erleichterung. Da „es“ aus besagten Gründen schnell über die Bühne gehen muss, wird dieser Modus laufend verstärkt und der Genuss bleibt auf der Strecke. Das bleibt für viele Männer auch in der Paarsexualität so, einfach, weil sie es nicht besser wissen und gelernt haben. Das macht sie nicht gerade zu tollen Liebhabern, und für sie selbst ist noch viel Genusspotenzial zu entdecken, vor allem via Langsamkeit und bewusste Wahrnehmungs- und Atemschulung. Auf diese Weise wird der Sex auch zu nährendem Sex.
Das Suchtproblem
Zur Suchtproblematik steigert sich die Selbstbefriedigung vor allem durch Pornokonsum. Dabei liegt das Problem der Pornografie- und Selbstbefriedigungsspirale genau in diesem mechanischen Modus versteckt: Heimlich, schnelles Rubbeln, viel Druck, Atem anhalten, schnelle Entladung, die oft nicht mal recht wahrgenommen wird, oftmals bei grosser Häufgkeit gar keine richtige Entladung mehr, dann zunehmend auch Erektionsprobleme (unabhängig vom Alter). Auf diese Weise ist im Körper ganz wenig bis keine Wahrnehmung vorhanden, denn Augen und Kopf sind nach aussen gerichtet. Damit die körperliche Aufladung überhaupt noch funktioniert, müssen die optischen Reize zudem immer stärker werden.
Ein gänzlicher Verzicht auf Selbstbefriedigung wird dieses Problem nicht lösen, weil wir das Schädliche nicht durch etwas Hilfreiches ersetzten, sondern nur ein Vakuum schaffen. Dieses Vakuum können wir zwar auch anderweitig sinnvoll füllen, sprich sublimieren. Doch damit haben Männer noch nichts Neues gelernt für ihre sexuelle Entwicklung und Erfüllung und nichts für die Paarsexualität.
Grosses Kino
„Grosses Kino“, sagte mir kürzlich ein junger Ehemann nach einem Vortrag und drückte mir dankend die Hand zum Abschied. Ihr lieben „Moralapostel der Selbstbefriedigung“ da draussen. Ihr wisst gar nicht, wie frustriert Ehemänner und Ehefrauen über ihre erlebte Sexualität sind, und wie sehr sie sich nach lustvollen Erlebnissen miteinander sehnen. Und das wirklich Schöne daran ist – man kann das lernen, wenn es einem erlaubt ist. Für diese Erlaubnis werde ich mich weiterhin mit aller Kraft einsetzen – gegen alle Widerstände.
Herzliche Grüsse - Veronika
* Es gibt in den diversen Lebensgeschichten der Bibel natürlich noch viel mehr sexuelle Szenen, deren Interpretation einige interessante Ansätze zu Tage fördern könnte über Gottes Haltung zu Sex. Doch diese waren nicht geeignet, um Sex als lernbare Fähigkeit zu vermitteln oder das Zusammenleben von Liebespaaren zu illustrieren.
** GLINUS = Insiderbegriff für „gläubig in unserem Sinne".