Hallo Veronika!
Das Verhalten unseres 8-jährigen Sohnes macht mir Angst und Sorgen, weshalb ich jetzt bei Dir Rat holen möchte. Neben unserem Sohn haben wir noch eine Tochter, zu der er ein sehr herzliches Verhältnis hat. Unsere Kinder sind wenig am Computer, da sie viel draussen spielen und sehr kreativ sind. Manchmal finden sie es lustig, in die Röcklein der Tochter zu schlüpfen und zu tanzen oder Rollenspiele zu machen (nicht mehr so oft noch, wie vor ein, zwei Jahren), was ich total ok. finde.
Als ich mich letzte Woche schminkte, wollte meine Tochter natürlich auch Lippenstift haben, so auch unser Sohn. Ich liess ihn dann sich schminken, aber mit einem komischen Gefühl. In den Ferien füllte die Tocher ihr Badehose voll mit Sand, worauf unser Sohn ebenfalls einen Badanzug seiner Schwester anzog und diesen mit Sand füllte. Es sind einfach immer wieder solche Situationen, die mich verunsichern und ich nicht weiss, wie ich reagieren soll oder was in meinem Sohn vorgeht. Ich denke, für sein Alter ist das doch nicht mehr so angebracht, oder?
Er liegt manchmal im Bett und macht nichts... Als ich ihn einmal fragte, was er denn tue, sagte er, dies sei ein Geheimnis (für mich kein Problem). Letzte Woche waren die Kinder am Kneten. Ihr Thema war "Scheiden, Kinder produzieren etc." Diese Ideen kamen alle von unserem Sohn. Als ich ein wenig nachfragte, sagte er: "Das war mein Geheimnis. Ich träume manchmal eben von Scheiden, wenn ich im Bett liege und wach bin." Ich habe ihm zugehört und nichts weiter dazu gesagt, dann haben sie weiter gespielt. Ich habe sie machen lassen, da ich nichts unterdrücken will, was sie ausleben sollen. Und doch bin recht unsicher, ob dies der "Normalität der Entwicklung" entspricht und weiss nicht wie ich reagieren soll....
Unser Sohn ist sonst sehr ein Bub. Er schiesst mit Pistolen, liebt sein Sackmesser, kann reinhauen, spielt Schlagzeug, experimentiert gerne und werkelt gerne im Keller mit Holz etc. Allerdings ist er auch sehr feinfühlig und sensibel. Fazit: Ist dieses Verhalten unseres Sohnes normal"? Wie soll ich reagieren, wie nicht?
Danke für Deine Antwort - Melea, 34 Jahre
Liebe Melea
Zuerst möchte ich Dir sagen, dass Euer Umgang mit Eurem Sohne genau richtig ist. Ihr solltet möglichst wenig Aufhebens (eigentlich gar keines) um diese Spiele machen. Wenn Ihr beginnt, Euch komisch zu verhalten, wird er denken, dass irgendetwas mit ihm nicht stimmt. Und er wird sich „falsch“ und schlecht fühlen. Würdet Ihr dagegen angehen, könnte es sein, dass Ihr das, was Euch Sorgen macht, entweder nur noch verstärkt oder ihn in die Heimlichkeit drängt.
Zu Deiner zwar nicht ausgesprochenen, aber vermutlichen Sorge: Es wird nicht gelingen, Transsexualität oder Homosexualität „ab-zu-erziehen“. Grundsätzlich einmal würde ich diese Sorge vorerst zur Seite legen. Denn in der Entwicklung des Kindes geschieht ganz viel, auch viel experimentieren und fantasieren. Es wäre unangemessen, in seinem Alter aus einer Phase heraus Rückschlüsse zu ziehen. Lasst Euren Sohn einfach sein, wie er sein möchte. Behandelt das Thema Sexualität offen, lasst entsprechende Bücher und Comics (Titeuf: Sex, Gott und Hosenträger) rumliegen, seid ansprechbar und gebt Anworten. Nützt diese Zeit der Neugierde, denn in nicht allzu ferner Zeit könnte er sich auch vorübergehend nicht mehr für diese Themen interessieren.
Ca. nach dem 7. Lebensjahr kommt die "Latenzphase", in der alles Geschlechtliche in den Hintergrund rückt und Mädchen und Buben sich gegenseitig doof finden. Die kindliche Sexualität unterscheidet sich grundlegend von der Sexualität Erwachsener, dennoch sind Menschen schon von Geburt an empfindsame Wesen. Das heißt: Kindliche Sexualität hat nichts mit erotischem Begehren oder Verlangen zu tun, sondern ist auf das körperliche Empfinden von schönen Gefühlen bezogen. Das Zentrum dieser Lustempfindung verschieb sich in der jeweiligen Entwicklungsphase vom Mund (oral, alles in den Mund nehmen und mit dem Mund erforschen - Säugling) über die Kontrolle der Schliessmuskeln (anal - Kleinkind) bis zur Erkundung der Geschlechtsorgane (phallisch).
Der Begriff „Latenzphase“ leitet sich vom lateinischen Wort „latent“ ab und bedeutet so viel wie „verborgen sein“ (laut Duden: „vorhanden, aber [noch] nicht in Erscheinung tretend; nicht unmittelbar sichtbar oder zu erfassen“). In diesem Alter finden wichtige Veränderungen statt. Kinder entwickeln ihre psychosozialen, sensomotorischen und intellektuellen Kompetenzen. Bereits erworbene Fähigkeiten werden in der Latenzphase weiter ausgebaut, Werte und Normen gestärkt. Mit der Einschulung erlernen Kinder eine positive Leistungsorientierung und bekommen ein gutes Selbstwertgefühl. In der Latenzphase wird außerdem das soziale Verhalten ausgeformt – Freundschaften entstehen. Heimliche Schwärmereien sind jetzt tatsächlich "geheim".
Anzeichen, dass die Latenzphase sich dem Ende zuneigt, sind Gefühlsäusserungen, Stimmungsschwankungen, das erste sexuelle Interesse und erotisches Verlangen. Das Kind steuert geradewegs auf die Pubertät zu. Zunehmend beginnen Kinder, sich für das andere Geschlecht zu interessieren, bis sie sich schließlich mitten in der genitalen Phase befinden. Bei sensiblen und emotionalen Kindern ist aber diese klare Abgrenzung oft nicht so ausgeprägt. Es scheint manchmal, als würden diese direkt von der Trotzphase in die Pubertät gleiten.
Liebe Melea, obwohl wir die kindliche Entwicklung in klare Abschnitte unterteilen, entwickelt sich jedes Kind ganz indivuell. Abweichungen davon sind normal. Und heute weiss man, dass, egal, ob wir Mann oder Frau sind, sich beispielsweise das Hirn trotzdem beim Mann mehr weiblich und bei der Frau mehr männlich, je nach entsprechender "Hormonzugabe" in verschiedenen embrionalen Entwicklungsphasen, entwickeln kann (Mann/Frau - Vera Birkenbihl) (siehe auch BLOG TRANSGENDER).
So hoffe ich, Dir Gelassenheit in der Frage und liebevolles Verständnis für Deinen Sohn geben zu können . Herzlich - Veronika