Liebe Veronika
Mein Freund und ich sind seit bald zwei Jahren ein Paar, und für uns beide ist es die erste Beziehung. Bezüglich unserem Wunsch nach Sexualität haben wir sehr unterschiedliche Ansichten: Noch bevor wir ein Paar wurden, habe ich mit ihm über Sexualität gesprochen und ihm gesagt, dass ich keinen Sex vor der Ehe möchte - nicht, weil mir das irgendwer eingeprügelt hat, sondern weil ich mir für körperliche Intimität einen verbindlichen Rahmen wünsche. Mir ist schon klar, dass eine Ehe keine Garantie für befriedigende Sexualität bietet. Aber ich stelle mir doch vor, dass ein Eheversprechen bedeutet, sein Bestes dafür zu geben, und dieses Versprechen wünsche ich mir doch. Mein Freund, der nicht im engeren Sinn freikirchlich-gläubig ist, sieht das zwar anders, respektierte aber bisher meinen Wunsch.
Doch mit der Zeit gelangten wir in erotische Grauzonen, weil ich einerseits durch unsere Beziehung entdeckte, wie schön physische Intimität sein kann, andererseits hatte er doch zunehmend das Bedürfnis nach Sex. Nun hat sich unser Konflikt zugespitzt: Er sehnt sich nach Sex und ich stosse an meine Grenzen. Er vergleicht sein Bedürfnis nach Sex mit meinem Bedürfnis nach Kuscheln. Diese Argumentation kann ich nachvollziehen und finde es auch sehr stark von ihm, dass er seit zwei Jahren verzichtet. Aber Sex zu haben widerspricht meiner Ansicht. Heiraten ist für uns keine Option. Wir sind beide noch im Studium und wollen nicht einfach des Sexes wegen heiraten.
Ich habe Angst davor, dass, wenn wir Sex hätten, wir nie heiraten, denn dann hätte er ja alles, was er wollte, dann wäre heiraten ja total überflüssig. Er widerspricht dem zwar, aber ich weiss nicht, ob das stimmen würde. Du siehst, wir stecken etwas in der Klemme... Ich möchte nicht einfach Sex haben, damit wir zusammenbleiben, aber ich möchte mit ihm zusammenbleiben. Hast Du eine Idee, wie wir hier auf einen gemeinsamen Nenner kommen können?
Herzlich, Lilly, 23 Jahre
Liebe Lilly
Auf einen gemeinsamen Nenner kommt Ihr nur, indem Ihr Euch gemeinsam mit diesem Thema befasst und darüber sprecht. Auch darüber, wie es Euch geht damit. Als Beispiel möchte ich einen Deiner letzten Sätze aufgreifen: „Ich habe Angst davor, dass, wenn wir Sex hätten, wir nie heiraten, denn dann hätte er ja alles, was er wollte, dann wäre heiraten ja total überflüssig.” Findest Du nicht auch, dass das eine etwas unfaire Annahme ist? Das würde ja heissen, es geht Deinem Freund nur um Sex und überhaupt nicht um Eure Beziehung. Viele Frauen denken leider so, und oft wurde ihnen das (von Frauen) im Elternhaus vermittelt. Nämlich, dass Männer nur das Eine wollen. Doch das ist ein sexistisches Männerbild.
Sexualität ist nur ein Teil des Beziehungsaspekts. Ich nehme an, Dein Freund ist aus ganz anderen Gründen mit Dir zusammen, sonst würde er wohl nicht freiwillig auf Sex verzichten. Man kann die Liebe, um die es in einer Paarbeziehung geht und von der sie lebt, in drei „Teil-Lieben“ unterteilen: In eine partnerschaftliche, eine erotische und eine freundschaftliche. Zwar sind sie nicht immer gleich gross und gleich intensiv zu leben und zu erleben. Das wechselt sich immer wieder etwas ab. Und nichts davon geschieht einfach so, ohne Investition. Doch wir wünschen uns, alle diese drei Teile in einer Beziehung auszuleben.
Ich weiss nicht, ob Du meine Bücher gelesen hast (was ich Dir empfehlen würde). Darin beschreibe ich u.a., dass der Weg des Mannes, Liebe zu zeigen und Liebe zu spüren, über die Sexualität geht. Der Weg der Frauen hingegen geht über die romantischen Gefühle hin zum Sex. Dein Freund gibt diesem seinem Bedürfnis Ausdruck. Er möchte seine Liebe zu Dir über den Sex spüren. Du hingegen bist ganz zufrieden ohne Sex. Ich habe nicht wenige Frauen kennen gelernt, die auch später lieber bei der Romantik bleiben und gar keinen Spass am Sex entwickeln (wollen). Das ist natürlich für die Männer sehr frustrierend. Also achte Dich einmal darauf, wie stark Dein sexuelles Begehren wirklich ist. Ich habe viele Paare in der Beratung erlebt, die dachten, bis zur Ehe mit dem Sex zu warten, sei doch ganz einfach, Sie hätten keine Probleme damit. Doch danach stellten sie in der Ehe fest, dass sie grundsätzlich keine grosse Sehnsucht nach Sex hatten, was ihnen das Sex- und Eheleben ziemlich vermieste.
Ich weiss nicht, was für einen Zeithorizont Du mit Warten auf Eure erotische Beziehung hast, aber es tönt nicht, als wäre das absehbar. Dass das für Deinen Freund schwierig wird, kann ich gut nachvollziehen, vor allem, weil er ja nicht die „fromme Lehrmeinung" dazu intus hat. Damit bringt ihr Euch beide in ein Dilemma, das vielleicht später auch andere Lebensbereiche betreffen könnte. Glaube oder Religion ist nicht einfach ein Accessoire, sondern ein Lebensstil. Im Moment möchtest Du diesen Lebensstil zum Massstab Eurer Beziehung machen. Die Frage ist, kann das gut gehen, so allein von Dir bestimmt. Diesen Kompromiss geht Dein Freund vermutlich ein, weil er Dich auf keinen Fall verlieren will – und gerade eben NICHT, weil er es nur auf den Sex abgesehen hat. Genauso gut, wie er vielleicht nicht heiraten will, wenn er Sex haben kann, könnte er Dich auch verlassen, weil er noch Jahre keinen Sex haben darf.
Wer nur wegen dem Sex heiratet, ja, der sollte das Heiraten tatsächlich lieber bleiben lassen. Denn Sex allein wird keine Ehe stabil machen. Sex hat zudem die Tendenz, nach der ersten Euphorie schnell weniger zu werden, wenn man nicht dran bleibt. Heiraten tut man, weil man einen Menschen gefunden hat, mit dem man das Leben teilen und ihm möglichst oft nahe sein will. Mit dem man ein gutes Team sein will. Man will ihn heiraten, weil er der Mensch ist, der einen selbst zu einem besseren Menschen macht. Und Intimität gehört irgendwann ganz logisch mit dazu und macht ein Paar erst zu einem Paar, im Unterschied zu Freunden.
Ich will, darf und kann Dich nicht zu Sex ermutigen. Ich will, darf und kann Dich auch nicht davon abhalten. Das müsst Ihr beide ganz allein in eigener Verantwortung zusammen klären. Ihr könnt Euch durch die entsprechenden Blogs von mir lesen und diesen Vortrag von Sigfried Zimmer hören. Davon ausgehend wünsche ich Euch gute Gespräche und eine gute Auseinandersetzung mit Eurem Thema.
Herzliche Grüsse - Veronika