Liebe Veronika
Ich bin mit einem äusserst liebevollen, wunderbaren Mann verlobt und wir werden dieses Jahr heiraten. Er ist unglaublich zärtlich, aufmerksam und entgegenkommend. Wir beide sind 25 Jahre alt, noch im Studium, in der Gemeinde aktiv und hatten vorher noch nie eine Beziehung. Konservativ aufgewachsen, wollen wir mit dem Sex warten und übernachten auch nicht beieinander. Wir sind beide sehr leidenschaftlich, voller Neugier und so kam es, dass mein Verlobter beim Schmusen schon Orgasmen hatte, obwohl wir weder nackt waren, noch uns "unten" berührten. Nun sind wir doch etwas nachdenklich geworden, was das nun für uns heisst. Sollten wir mehr auf Distanz gehen und lernen, mehr Geduld zu üben? Wir sehen uns nicht so oft, weshalb dann natürlich eine geballte Ladung Leidenschaft und Liebe da ist. Ich bin an dieser Situation nicht ganz unschuldig: Ich mag es, mich zu schminken, mich für ihn schön zu machen und ziehe mich auch weiblich und sexy an.
Ich möchte von ganzem Herzen Gott dienen. Ich habe mir immer vorgestellt, wie ich mich verhalten würde, wenn ich einen Mann kennen lerne. Und jetzt ist alles so anders. Ich vertrat die Haltung, das Körperliche müsse zusammen mit der Kommunikation wachsen. Das ist bei uns auch so. Wir engagieren uns, gehen unter die Leute, führen stundenlange Gespräche, das gibt allem eine wunderbare Tiefe. Aber irgendwie habe ich mir nie vorgestellt, wie sich das alles anfühlen würde.
Deshalb frage ich dich: Was empfiehlst du uns, damit unsere Sexualität „rein“ und „göttlich“ bleibt? Ich freue mich sehr auf deine Antwort! Ganz lieber Gruss, Simea
Liebe Simea
Hach, in was für einer aufregend schönen Zeit Ihr Euch befindet! Geniesst diese Momente aus ganzem Herzen, denn sie werden nicht mehr wiederkommen. Es ist die Zeit der Unschuld voller Erotik, das Hohelied lässt grüssen. Diese aufregende Phase erleben heute nicht mehr viele Menschen. Die einen nicht, weil sie sofort Sex haben, die anderen, weil sie daraus die ganze Erotik verbannen. Geniesst Eure geballte Ladung Leidenschaft und Liebe und lasst sie Euch nicht durch Schuldgefühle verderben. Versucht möglichst viel davon in Eure Ehe mitzunehmen und lasst Euch von niemandem ein schlechtes Gewissen einreden. Seid unbeschwert, wenn auch nicht leichtsinnig.
Das Eure Körper so ekstatisch reagieren, habt Ihr den Hormonen zu verdanken, welche die Verliebtheit freisetzt. Diese werden sich mit der Zeit wieder beruhigen. Dass Dein Verlobter so schnell reagiert, hat auch mit seiner Erregbarkeit zu tun. Die ist von Mensch zu Mensch sehr unterschiedlich. Hormone spielen eine Rolle, die Körpersensibilität und natürlich das Alter. Junge Männer sind mehr erregbar als alte, Männer mehr als Frauen. Ein Paar suchte bei mir Rat, da löste Schmusen bei beiden Orgasmen aus. Diesen riet ich, sie sollten sich freuen über ihre funktionierende Sexualität. Weil ich zu viele christliche Paare sehe, wo es das nicht tut. Du beschreibst, dass Ihr jeweils sehr aufgeregt seid, Euch wieder zu sehen. Ein solcher Zustand ist oft mit hoher körperlicher Spannung verbunden, was in einem erregten Körper oft ungewollt den Orgasmus auslöst. Das ist beim Sexakt dann eher unerwünscht, weil der Mann so zu schnell kommt. Aus meinem Buch könnt Ihr lernen, wie man sich in der Erregung mit Beckenschaukel und Atmen entspannt und so die Erregung kontrollieren kann.
Menschen fragen mich immer wieder, wie weit sie gehen können, damit es noch nicht Sex ist. Persönlich finde ich das eine heuchlerische Frage. Denn sie fragt mehr danach, ein Gesetz einzuhalten und sich dann damit zu brüsten, anstatt zu überlegen, was die Liebe uns raten würde. Rein und göttlich, wie du fragst, ist für mich das Liebesgebot. Das beinhaltet auf der einen Seite zu fragen, was Fürsorge tun würde, wenn sie das Beste für einen selbst und den Liebespartner sucht. Also solltet Ihr Euch vor allem gegenseitig und selbst fragen, wie wohl Euch bei Eurem Tun ist in Bezug auf Eure eigenen Grenzen und Vorstellungen. Und auf der anderen Seite könnt Ihre Euch danach fragen, wie Ihr als Vorbilder leben wollt. Ein unverkrampftes und reflektiertes Verhältnis zu Sexualität hat definitiv Vorbildwirkung und erfüllt auch das Liebesgebot.
Die Formen des Kennenlernens und der Umgang der Geschlechter in unserer heutigen Lebenswelt unterscheiden sich fundamental von den Gewohnheiten früherer Generationen. Lange Ausbildungszeiten, jahrelanges „Gehen miteinander“, lange Verlobungszeiten, späte Heiraten, sich im Privatbereich des anderen aufhalten, das alles war in den prüden Jahrhunderten vor uns unvorstellbar, aber heute völlig normal. In König Davids Zeiten und denen im Neuen Testament, auf die wir uns mit Schriftstellen berufen, heirateten Frauen mit 13 Jahren und Männer mit 17 Jahren, mit der damaligen Geschlechtsreife. Deshalb ist es für uns heute so schwierig, wenn wir vorbei an unserer heutigen Lebenswelt, verbindliche sexuelle Verhaltensnormen für die Gemeinde formulieren wollen. Für mich sollten sich biblische und göttliche Richtlinien durchaus auch an der gelebten Lebensrealität und Lebenswelt orientieren.
Sich erotisch aneinander zu erfreuen war offenbar zu Zeiten Salomos normal. Vielleicht traf man sich nicht im Haus oder Zelt, aber in der weiten Natur. Konservative Bibelausleger behaupten ja immer, die Texte des Hohelieds sprächen über verheiratete Paare. Für mich macht das wenig Sinn. Denn wie sollte eine verliebte Frau ihren verheirateten Partner in den Gassen der Stadt suchen, oder ein sehnsuchtsvoller Liebhaber an die Haustüre seiner Ehefrau klopfen? Weshalb sollten sie Liebesstunden im Weinberg verbringen? Ausser zur Abwechslung? Vor 500 Jahren, zur Zeit der Reformation, war es zum Beispiel völlig normal, dass Verlobte bereits zusammen wohnten. Jedermann ging davon aus, dass diese Paare Sex hatten. So lebte auch Katharina von Bora zur Verlobungszeit bereits mit Luther zusammen. Er schreibt darüber, dass es ihnen beiden sehr wichtig war, bis zur Hochzeit zwar das Kissen zu teilen, nicht aber den Körper. Ob Luther unverhofft trotzdem einen Orgasmus hatte, ist nicht bekannt. Aber bekannt ist, dass er zu sämtlichen Körperausscheidungen und Körperreaktionen ein unverkrampftes Verhältnis hatte.
Ich weiss, ich definiere an verschiedenen Stellen „Sex haben“ mit sich gegenseitig zum Orgasmus stimulieren, was Euch irritieren mag. Das heisst nicht, dass ihr nun Sex hattet. Die eigentliche Definition von „Sex haben“, „Liebe machen“, „Miteinander schlafen“ ist Geschlechtsverkehr im Sinne von Vaginalverkehr. Selbst Wikipedia hat diese Definition aber erweitert, weil sich Sex eben nicht einfach nur auf Geschlechtsverkehr reduzieren lässt. Ich mache diese Definition, weil viele junge Christen behaupten, sie hätten keinen Sex, aber Petting, Oralverkehr und Analverkehr praktizieren. Was eigentlich gar niemanden etwas angeht, ausser dem Paar. Aber wenn sie es trotzdem an die grosse Glocke hängen, das Warten, dann finde ich das unethisch. Und das wiederum sage ich nicht, um Euch zu Sex zu ermutigen. Ihr werdet bald heiraten. Erwartung und Vorfreude ist etwas Wunderbares. Kostet es aus. Bereitet Euch jedes für sich selbst auf Euren ersten Sex vor und erwartet nicht, dass es gleich perfekt ist.
Und noch einmal – geniesst diese aufregende und wunderbare Zeit! Herzliche Grüsse – Veronika
Link zum Thema: Vorlesung von Sigfried Zimmer „Christliche Sexualethik – der Unterschied in den Paarbeziehungen zwischen antiken und modernen Gesellschaften“.