Immer wieder komme ich mit jungen Erwachsenen ins Gespräch über ihr Warten mit dem Sex. Davon, dass sie warten, sind sie fest überzeugt. Sprechen wir dann aber weiter, kommt schnell heraus, dass sie nicht nur schmusen, kuscheln, küssen und zärtlich sind, sondern dass sie nackt und mit allem Drum und Dran Liebesspiele bis zum Orgasmus haben. Also, alles – nur nicht „richtigen“ Geschlechtsverkehr.
Zu dieser frommen Wartetechnik inklusive Analverkehr gibt es ganz böse Filmchen aus den USA im Netz. Nur war mir bisher nicht bewusst, dass selbst ernsthafte Christen in Europa inzwischen glauben, die „Warte-Barriere“ bestehe einzig und allein beim Scheideneingang.
Ich fragte eine 28jährige Frau, wie sie denn darauf komme, dass richtiger Sex erst beim Geschlechtsverkehr beginne. Und ich fragte sie, weshalb, wenn sie doch als Paar das alles schon täten, sie denn nicht grad richtig Sex hätten. Ausser natürlich vielleicht um nicht schwanger zu werden. Kann man übrigens trotzdem, wenn man nicht aufpasst. Davor erörterten wir, weshalb ihre Art Sex zu haben oder eben ihre Art Nicht-Sex zu haben bei ihnen beiden bereits einige sexuelle Störungen zeigt und für ein späteres lustvolles Voll-Sex-Leben hinderlich sein könnte.
Die Frau erklärte mir, dass wenn sie richtigen Geschlechtsverkehr habe, sie ja quasi den Ehebund vor Gott besiegeln würde, weil dann das Blut vom Hymen fliesse. Davor aber sei es das eben nicht. Das war nicht allein ihre Meinung, sondern offenbar das aller ihrer Freundinnen. Und das gaben sie auch so anderen weiter. Also Blut gleich Bund. Dazu schrieb ich schon mal was in "Du hebelst grundlegende Ordnungen Gottes aus". Ich war total perplex. Ich dachte echt, solche Geschichten seien vor allem Internet-Stories aus Amerika. Wie zum Beispiel die, dass eine junge Frau ihrem Vater an der Hochzeit ein Zertifikat vom Arzt überreichte, welches ihr noch intaktes Hymen bezeugte. Dass das intakte Hymen ein absolutes Muss ist, hören wir zu genüge von jungen Musliminnen. Auch diese haben Analverkehr, um das Hymen intakt zu halten. Die chirurgische Wiederherstellung des Jungfernhäutchens boomt. Im Internet kann man Jungfernhäutchen-Attrappen mit Blut bestellen, die man in der Hochzeitsnacht einführt. Diese Frau erzählte mir dann auch, dass sie selbst mit dabei war an einem Seminar in den USA, wo über ihrer Gruppe von Frauen gebetet wurde, dass ihre Hymen wieder hergestellt werden.
Ich wollte von ihr wissen, ob sie das denn nachkontrolliert habe. Eine andere Frau erzählte mir mal, weil ich ihr dieselbe Frage stellte, sie hätte nicht nachgeschaut, aber sie hätte starke Schmerzen später beim ersten Sex mit ihrem Mann gehabt und es hätte auch etwas geblutet. Eine Vagina, die „nicht gebraucht“ wird, verengt sich wieder und kann beim ersten Sex nach langer Abstinenz schmerzen. Sex kann auch einfach schmerzen, weil die Muskeln angespannt sind, was bei Nervosität durchaus der Fall ist. Blut kann auch wegen einer kleinen Hautverletzung durch die ungewohnte Reibung fliessen. Gynäkologisch gesehen lässt ein wie auch immer aussehendes Hymen nicht auf Sex schliessen und auch nicht auf keinen Sex. Auch nicht eine Blutung. Abgesehen davon gibt es auch Frauen, die überhaupt kein Hymen haben. Von gar nicht vorhanden bis so dick und fest, dass es vom Arzt geöffnet werden muss - es gibt einfach alles. Unter diesem Link findet Ihr alles Wissenswerte zum Jungfernhäutchen.
Dieser heilige Gral des Jungfernhäutchens – er ist einfach nur Humbug. Unbiblische Mythologie. Es braucht überhaupt kein Blutzeichen. Zur Erinnerung – das Opfer ist vollbracht! Und sowieso nähme mich noch Wunder, wo denn dann das überprüfbare heilige Gralszeichen der Jungfräulichkeit des Mannes ist. Es kann doch nicht unser Ernst sein, dass Gott sowas wichtig sein soll. Es geht doch um ganz andere Dinge.
Frauen brauchen für ihren Selbstwert und ihr Selbstgefühl kein „intaktes“ Jungfernhäutchen, und schon gar nicht als Rechtfertigung für ihre Würde. Sondern sie brauchen zu wissen, wer sie sind und welchen Stand sie haben in Gott. Und sie sollten sich behaupten können, wenn sie gar keinen Sex wollen, er aber unbedingt schon. Die Mythologie um das Hymen hat mit magischem Denken zu tun und gar nichts mit befreiendem Glauben. Es hat auch gar nichts mit Aufklärung zu tun. Statt uns aufs Hymen zu stürzen, sollten wir junge Menschen über Sex aufklären. In Workshops zum Umgang mit Sexualität gehören Informationen zur Sexualität, zum Körper, zur sexuellen Entwicklung, wie man mit sexuellen Sehnsüchten umgeht, wie man Verantwortung und Eigenverantwortung entwickelt, sexuelle Selbstsicherheit und ein gutes Selbstgefühl usw. Da wäre so viel möglich, was junge Menschen echt wissen möchten. Aber dafür muss man sich dieses Wissen erst aneignen. Um Verhaltenscodexe und Hymen-Mythen zu predigen braucht man kein Wissen über Sexualität, tut aber so, als wisse man Bescheid.
Ein junger Mann fragte mich neulich ebenfalls danach, was warten heisst, und meinte: Aber man kann doch auch angezogen einen Orgasmus haben, ist denn das o.k.? Dieser Mann möchte wie viele andere die Grenze bis zum Äussersten ausreizen. Natürlich kann man das. Aber meiner Ansicht nach hat das nichts mit warten zu tun. Warten hat etwas mit Verzicht zu tun. In diesem Fall mit verzichten auf Sex. Sprich, auf sexuelle Befriedigung zusammen mit einem anderen Menschen. Was junge Menschen heute tun, ist warten ohne zu verzichten. Das ist ein Widerspruch in sich. Niemand muss verzichten – aber nennt es um Himmels Willen nicht warten.
Die Frau war am Ende unseres Gesprächs ziemlich betreten. Sie sagte, sie hätte allen gesagt, sie würde warten, und wäre auch sehr stolz darauf gewesen. Aber nun sehe sie, dass dem gar nicht so sei. Daraus nun zu schliessen, man könne jetzt voll aufs Ganze gehen, wenn ein bisschen Sex auch Sex ist, meine ich damit nicht. Ich bin überzeugt, es gibt gute Gründe, zu warten und sich langsam an die Sexualität heranzutasten und auch gewisse Grenzen nicht zu überschreiten. Ein grosses Problem ist ja, dass wir der Sache überhaupt ein Label aufkleben müssen. Müssen wir aber nicht. Geht auch niemanden etwas an. Und selbst diejenigen, die sich nicht anrühren vor der Hochzeit, müssen ja nicht ein Schild „gewartet“ vor sich hertragen. Jesus nennt die Menschen, die rausposaunen müssen, was sie tun „Heuchler“. Allein im Matthäusevangelium 13 Mal.
Es gibt sehr gute Gründe zu warten. Der wichtigste ist, sich erst einmal überhaupt auf andere Weise kennen und immer besser kennen zu lernen. Dann würde vielleicht nicht geschehen, womit ich auch öfters mal konfrontiert bin. Dass Menschen zwar Sex miteinander haben, sich aber partout nicht entscheiden können, den Bund fürs Leben zu schliessen, weil sie sich nicht zu hundert Prozent sicher sind, dass sie den anderen wirklich „so fest“ wollen. Weil es gravierende Dinge gibt, die stören. Abgesehen davon, dass die heutige Generation Paarungswilliger sich tatsächlich extrem schwer tut, sich zu binden, und ihre Ansprüche zum Teil unerfüllbare Dimensionen haben, könnte es eben sein, dass man ohne Sex schneller rausfindet, das es nicht stimmt. Und man würde besser lernen, auf einem hohen Niveau zu kommunizieren, sagt eine Studie. Oder man würde merken, dass man gar nicht miteinander kommunizieren kann. Sex ist in Bezug all dieser Dinge ein schlechter Ersatz für eine gelingende Partnerschaft.
Unsere Zeit hat etwas ganz Kostbares verloren. Ich habe es schon letzte Woche angesprochen. Das Sehnen und Freuen und Verzichten. Die Bibel sagt, dass es Geduld bewirkt und die Geduld Bewährung und die Bewährung Hoffnung (Römer 5, 3-5). Alles Dinge, die uns zu verantwortungsvollen, gefestigten, sozialkompetenten Menschen mit Charakter machen. Zu Menschen mit einer Herzenbsbildung. Es gibt nicht nur im Glauben, sondern auch im Leben etwas Verheissenes, dessen Geheimnisse sich einem nur erschliessen, wenn man verzichten und warten kann.
Ich glaube, ich habe hier im Blog genügend betont, dass Sex richtig sein kann aber auch falsch. Dass jedes Paar für sich die Verantwortung tragen soll und muss. Vor allem zu erwachsenen Menschen sage ich: "Ihr seid niemandem Rechenschaft schuldig. Es geht niemanden was an, was ihr tut. Ihr müsst nicht verzichten, aber bitte nennt es nicht warten auf den St. Jümpferleinstag." :-)